Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

gewesen. Zwei Monate später waren sie nach Wien zurückgekehrt, und der College, dem ich die Einführung bei der Kranken dankte, brachte mir die Nachricht, Elisabeth befinde sich vollkommen wohl, benehme sich wie gesund, habe allerdings noch zeitweise etwas Schmerzen. Sie hat mir seither noch zu wiederholten Malen ähnliche Botschaften geschickt, jedesmal dabei zugesagt, mich aufzusuchen; es ist aber charakteristisch für das persönliche Verhältniss, das sich bei solchen Behandlungen herausbildet, dass sie es nie gethan hat. Wie mir mein College versichert, ist sie als geheilt zu betrachten; das Verhältniss des Schwagers zur Familie hat sich nicht geändert.

Im Frühjahr 1894 hörte ich, dass sie einen Hausball besuchen werde, zu welchem ich mir Zutritt verschaffen konnte, und ich liess mir die Gelegenheit nicht entgehen, meine einstige Kranke im raschen Tanz dahinfliegen zu sehen. Sie hat sich seither aus freier Neigung mit einem Fremden verheiratet.

Epikrise.

Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Localdiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigenthümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muss mich damit trösten, dass für dieses Ergebniss die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Localdiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurtheilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen.

Ich habe mich bemüht, die Aufklärungen, die ich über den Fall des Frl. Elisabeth v. R. geben kann, in die Darstellung ihrer Heilungsgeschichte zu verflechten; vielleicht ist es nicht überflüssig, das Wesentliche hier im Zusammenhange zu wiederholen. Ich habe den

gewesen. Zwei Monate später waren sie nach Wien zurückgekehrt, und der College, dem ich die Einführung bei der Kranken dankte, brachte mir die Nachricht, Elisabeth befinde sich vollkommen wohl, benehme sich wie gesund, habe allerdings noch zeitweise etwas Schmerzen. Sie hat mir seither noch zu wiederholten Malen ähnliche Botschaften geschickt, jedesmal dabei zugesagt, mich aufzusuchen; es ist aber charakteristisch für das persönliche Verhältniss, das sich bei solchen Behandlungen herausbildet, dass sie es nie gethan hat. Wie mir mein College versichert, ist sie als geheilt zu betrachten; das Verhältniss des Schwagers zur Familie hat sich nicht geändert.

Im Frühjahr 1894 hörte ich, dass sie einen Hausball besuchen werde, zu welchem ich mir Zutritt verschaffen konnte, und ich liess mir die Gelegenheit nicht entgehen, meine einstige Kranke im raschen Tanz dahinfliegen zu sehen. Sie hat sich seither aus freier Neigung mit einem Fremden verheiratet.

Epikrise.

Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Localdiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigenthümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muss mich damit trösten, dass für dieses Ergebniss die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Localdiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurtheilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen.

Ich habe mich bemüht, die Aufklärungen, die ich über den Fall des Frl. Elisabeth v. R. geben kann, in die Darstellung ihrer Heilungsgeschichte zu verflechten; vielleicht ist es nicht überflüssig, das Wesentliche hier im Zusammenhange zu wiederholen. Ich habe den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0146" n="140"/>
gewesen. Zwei Monate später waren sie nach Wien zurückgekehrt, und der College, dem ich die Einführung bei der Kranken dankte, brachte mir die Nachricht, Elisabeth befinde sich vollkommen wohl, benehme sich wie gesund, habe allerdings noch zeitweise etwas Schmerzen. Sie hat mir seither noch zu wiederholten Malen ähnliche Botschaften geschickt, jedesmal dabei zugesagt, mich aufzusuchen; es ist aber charakteristisch für das persönliche Verhältniss, das sich bei solchen Behandlungen herausbildet, dass sie es nie gethan hat. Wie mir mein College versichert, ist sie als geheilt zu betrachten; das Verhältniss des Schwagers zur Familie hat sich nicht geändert.</p>
          <p>Im Frühjahr 1894 hörte ich, dass sie einen Hausball besuchen werde, zu welchem ich mir Zutritt verschaffen konnte, und ich liess mir die Gelegenheit nicht entgehen, meine einstige Kranke im raschen Tanz dahinfliegen zu sehen. Sie hat sich seither aus freier Neigung mit einem Fremden verheiratet.</p>
          <div>
            <head> <hi rendition="#g">Epikrise.</hi> </head><lb/>
            <p>Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Localdiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigenthümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muss mich damit trösten, dass für dieses Ergebniss die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Localdiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurtheilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren <hi rendition="#g">eines</hi> voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen.</p>
            <p>Ich habe mich bemüht, die Aufklärungen, die ich über den Fall des Frl. Elisabeth v. R. geben kann, in die Darstellung ihrer Heilungsgeschichte zu verflechten; vielleicht ist es nicht überflüssig, das Wesentliche hier im Zusammenhange zu wiederholen. Ich habe den
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0146] gewesen. Zwei Monate später waren sie nach Wien zurückgekehrt, und der College, dem ich die Einführung bei der Kranken dankte, brachte mir die Nachricht, Elisabeth befinde sich vollkommen wohl, benehme sich wie gesund, habe allerdings noch zeitweise etwas Schmerzen. Sie hat mir seither noch zu wiederholten Malen ähnliche Botschaften geschickt, jedesmal dabei zugesagt, mich aufzusuchen; es ist aber charakteristisch für das persönliche Verhältniss, das sich bei solchen Behandlungen herausbildet, dass sie es nie gethan hat. Wie mir mein College versichert, ist sie als geheilt zu betrachten; das Verhältniss des Schwagers zur Familie hat sich nicht geändert. Im Frühjahr 1894 hörte ich, dass sie einen Hausball besuchen werde, zu welchem ich mir Zutritt verschaffen konnte, und ich liess mir die Gelegenheit nicht entgehen, meine einstige Kranke im raschen Tanz dahinfliegen zu sehen. Sie hat sich seither aus freier Neigung mit einem Fremden verheiratet. Epikrise. Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Localdiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigenthümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muss mich damit trösten, dass für dieses Ergebniss die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Localdiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurtheilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen. Ich habe mich bemüht, die Aufklärungen, die ich über den Fall des Frl. Elisabeth v. R. geben kann, in die Darstellung ihrer Heilungsgeschichte zu verflechten; vielleicht ist es nicht überflüssig, das Wesentliche hier im Zusammenhange zu wiederholen. Ich habe den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/146
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/146>, abgerufen am 28.03.2024.