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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Charakter der Kranken geschildert, die Züge, die bei soviel Hysterischen wiederkehren und die man wahrhaftig nicht auf Rechnung einer Degeneration setzen darf: Die Begabung, den Ehrgeiz, die moralische Feinfühligkeit, das übergrosse Liebesbedürfniss, das zunächst in der Familie seine Befriedigung findet, die über das weibliche Ideal hinausgehende Selbständigkeit ihrer Natur, die sich in einem guten Stück Eigensinn, Kampfbereitschaft und Verschlossenheit äussert. Eine irgend erhebliche hereditäre Belastung war nach den Mittheilungen meines Collegen in den beiden Familien nicht nachweisbar; ihre Mutter zwar litt durch lange Jahre an nicht näher erforschter, neurotischer Verstimmung; deren Geschwister aber, der Vater und dessen Familie durften zu den ausgeglichenen, nicht nervösen Menschen gezählt werden. Ein schwererer Fall von Neuropsychose war bei den nächsten Angehörigen nicht vorgefallen.

Auf diese Natur wirkten nun schmerzliche Gemüthsbewegungen ein, zunächst der depotenzirende Einfluss einer langen Krankenpflege bei dem geliebten Vater.

Es hat seine guten Gründe, wenn die Krankenpflege in der Vorgeschichte der Hysterien eine so bedeutende Rolle spielt. Eine Reihe der hierbei wirksamen Momente liegt ja klar zu Tage, die Störung des körperlichen Befindens durch unterbrochenen Schlaf, vernachlässigte Körperpflege, die Rückwirkung einer beständig nagenden Sorge auf die vegetativen Functionen; das Wichtigste aber liegt nach meiner Schätzung anderwärts. Wessen Sinn durch die hunderterlei Aufgaben der Krankenpflege beschäftigt ist, die sich in unabsehbarer Folge Wochen und Monate lang an einander reihen, der gewöhnt sich einerseits daran, alle Zeichen der eigenen Ergriffenheit zu unterdrücken, andererseits lenkt er sich bald von der Aufmerksamkeit für seine eigenen Eindrücke ab, weil ihm Zeit wie Kraft fehlt, ihnen gerecht zu werden. So speichert der Krankenpfleger eine Fülle von affectfähigen Eindrücken in sich auf, die kaum klar genug percipirt, jedenfalls nicht durch Abreagiren geschwächt worden sind. Er schafft sich das Material für eine Retentionshysterie. Genest der Kranke, so werden all diese Eindrücke freilich entwerthet; stirbt er aber, bricht die Zeit der Trauer herein, in welcher nur werthvoll erscheint, was sich auf den Verlorenen bezieht, so kommen auch jene der Erledigung harrenden Eindrücke an die Reihe, und nach einer kurzen Pause der Erschöpfung bricht die Hysterie los, zu der der Keim während der Krankenpflege gelegt wurde.

Charakter der Kranken geschildert, die Züge, die bei soviel Hysterischen wiederkehren und die man wahrhaftig nicht auf Rechnung einer Degeneration setzen darf: Die Begabung, den Ehrgeiz, die moralische Feinfühligkeit, das übergrosse Liebesbedürfniss, das zunächst in der Familie seine Befriedigung findet, die über das weibliche Ideal hinausgehende Selbständigkeit ihrer Natur, die sich in einem guten Stück Eigensinn, Kampfbereitschaft und Verschlossenheit äussert. Eine irgend erhebliche hereditäre Belastung war nach den Mittheilungen meines Collegen in den beiden Familien nicht nachweisbar; ihre Mutter zwar litt durch lange Jahre an nicht näher erforschter, neurotischer Verstimmung; deren Geschwister aber, der Vater und dessen Familie durften zu den ausgeglichenen, nicht nervösen Menschen gezählt werden. Ein schwererer Fall von Neuropsychose war bei den nächsten Angehörigen nicht vorgefallen.

Auf diese Natur wirkten nun schmerzliche Gemüthsbewegungen ein, zunächst der depotenzirende Einfluss einer langen Krankenpflege bei dem geliebten Vater.

Es hat seine guten Gründe, wenn die Krankenpflege in der Vorgeschichte der Hysterien eine so bedeutende Rolle spielt. Eine Reihe der hierbei wirksamen Momente liegt ja klar zu Tage, die Störung des körperlichen Befindens durch unterbrochenen Schlaf, vernachlässigte Körperpflege, die Rückwirkung einer beständig nagenden Sorge auf die vegetativen Functionen; das Wichtigste aber liegt nach meiner Schätzung anderwärts. Wessen Sinn durch die hunderterlei Aufgaben der Krankenpflege beschäftigt ist, die sich in unabsehbarer Folge Wochen und Monate lang an einander reihen, der gewöhnt sich einerseits daran, alle Zeichen der eigenen Ergriffenheit zu unterdrücken, andererseits lenkt er sich bald von der Aufmerksamkeit für seine eigenen Eindrücke ab, weil ihm Zeit wie Kraft fehlt, ihnen gerecht zu werden. So speichert der Krankenpfleger eine Fülle von affectfähigen Eindrücken in sich auf, die kaum klar genug percipirt, jedenfalls nicht durch Abreagiren geschwächt worden sind. Er schafft sich das Material für eine Retentionshysterie. Genest der Kranke, so werden all diese Eindrücke freilich entwerthet; stirbt er aber, bricht die Zeit der Trauer herein, in welcher nur werthvoll erscheint, was sich auf den Verlorenen bezieht, so kommen auch jene der Erledigung harrenden Eindrücke an die Reihe, und nach einer kurzen Pause der Erschöpfung bricht die Hysterie los, zu der der Keim während der Krankenpflege gelegt wurde.

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Charakter der Kranken geschildert, die Züge, die bei soviel Hysterischen wiederkehren und die man wahrhaftig nicht auf Rechnung einer Degeneration setzen darf: Die Begabung, den Ehrgeiz, die moralische Feinfühligkeit, das übergrosse Liebesbedürfniss, das zunächst in der Familie seine Befriedigung findet, die über das weibliche Ideal hinausgehende Selbständigkeit ihrer Natur, die sich in einem guten Stück Eigensinn, Kampfbereitschaft und Verschlossenheit äussert. Eine irgend erhebliche hereditäre Belastung war nach den Mittheilungen meines Collegen in den beiden Familien nicht nachweisbar; ihre Mutter zwar litt durch lange Jahre an nicht näher erforschter, neurotischer Verstimmung; deren Geschwister aber, der Vater und dessen Familie durften zu den ausgeglichenen, nicht nervösen Menschen gezählt werden. Ein schwererer Fall von Neuropsychose war bei den nächsten Angehörigen nicht vorgefallen.</p>
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[141/0147] Charakter der Kranken geschildert, die Züge, die bei soviel Hysterischen wiederkehren und die man wahrhaftig nicht auf Rechnung einer Degeneration setzen darf: Die Begabung, den Ehrgeiz, die moralische Feinfühligkeit, das übergrosse Liebesbedürfniss, das zunächst in der Familie seine Befriedigung findet, die über das weibliche Ideal hinausgehende Selbständigkeit ihrer Natur, die sich in einem guten Stück Eigensinn, Kampfbereitschaft und Verschlossenheit äussert. Eine irgend erhebliche hereditäre Belastung war nach den Mittheilungen meines Collegen in den beiden Familien nicht nachweisbar; ihre Mutter zwar litt durch lange Jahre an nicht näher erforschter, neurotischer Verstimmung; deren Geschwister aber, der Vater und dessen Familie durften zu den ausgeglichenen, nicht nervösen Menschen gezählt werden. Ein schwererer Fall von Neuropsychose war bei den nächsten Angehörigen nicht vorgefallen. Auf diese Natur wirkten nun schmerzliche Gemüthsbewegungen ein, zunächst der depotenzirende Einfluss einer langen Krankenpflege bei dem geliebten Vater. Es hat seine guten Gründe, wenn die Krankenpflege in der Vorgeschichte der Hysterien eine so bedeutende Rolle spielt. Eine Reihe der hierbei wirksamen Momente liegt ja klar zu Tage, die Störung des körperlichen Befindens durch unterbrochenen Schlaf, vernachlässigte Körperpflege, die Rückwirkung einer beständig nagenden Sorge auf die vegetativen Functionen; das Wichtigste aber liegt nach meiner Schätzung anderwärts. Wessen Sinn durch die hunderterlei Aufgaben der Krankenpflege beschäftigt ist, die sich in unabsehbarer Folge Wochen und Monate lang an einander reihen, der gewöhnt sich einerseits daran, alle Zeichen der eigenen Ergriffenheit zu unterdrücken, andererseits lenkt er sich bald von der Aufmerksamkeit für seine eigenen Eindrücke ab, weil ihm Zeit wie Kraft fehlt, ihnen gerecht zu werden. So speichert der Krankenpfleger eine Fülle von affectfähigen Eindrücken in sich auf, die kaum klar genug percipirt, jedenfalls nicht durch Abreagiren geschwächt worden sind. Er schafft sich das Material für eine Retentionshysterie. Genest der Kranke, so werden all diese Eindrücke freilich entwerthet; stirbt er aber, bricht die Zeit der Trauer herein, in welcher nur werthvoll erscheint, was sich auf den Verlorenen bezieht, so kommen auch jene der Erledigung harrenden Eindrücke an die Reihe, und nach einer kurzen Pause der Erschöpfung bricht die Hysterie los, zu der der Keim während der Krankenpflege gelegt wurde.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/147>, abgerufen am 25.04.2024.