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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Lungenphthise. Solche empirisch gewonnene Krankheitsbilder werden durch den Fortschritt unserer Erkenntniss geläutert, vertieft, erklärt; sie sollen und können dadurch aber nicht zerstört werden. Die ätiologische Forschung hat gezeigt, dass die verschiedenen Theilprocesse der Lungenphthise durch verschiedene Krankheitsursachen bedingt sind; der Tuberkel durch den Bacillus Kochii, der Gewebszerfall, die Cavernenbildung, das septische Fieber durch andere Mikroben. Trotzdem bleibt die tuberculöse Phthise eine klinische Einheit, und es wäre unrichtig, sie dadurch zu zerstören, dass man nur die "specifisch tuberculösen", durch den Bacillus Koch's bedingten Gewebsveränderungen ihr zuschreiben, die anderen von ihr loslösen wollte. - Ebenso muss die klinische Einheit der Hysterie erhalten bleiben, auch wenn sich herausstellt, dass ihre Phänomene durch verschiedene Ursachen bedingt sind, die einen durch einen psychischen Mechanismus, die anderen ohne solchen zustande kommen.

Das ist nun meiner Ueberzeugung nach wirklich der Fall. Nur ein Theil der hysterischen Phänomene ist ideogen, und die Annahme der Möbius'schen Definition reisst die klinische Einheit der Hysterie, ja auch die Einheit eines und desselben Symptoms bei einem und demselben Kranken mitten entzwei.

Es wäre ein dem Analogieschluss Möbius' ganz analoger Schluss: "Weil sehr oft Vorstellungen und Wahrnehmungen die Erection hervorrufen, nehmen wir an, dass sie allein es immer thun, und dass auch die peripheren Reize erst auf dem Umwege über die Psyche jenen vasomotorischen Vorgang auslösen." Wir wissen, dass das ein Irrthum wäre, und doch lägen diesem Schluss gewiss so viele Thatsachen zu Grunde wie dem Satz Möbius' betreffs der Hysterie. In Analogie mit einer grossen Zahl physiologischer Vorgänge, wie Speichel- und Thränensecretion, Veränderung der Herzaction u. dgl. ist als möglich und wahrscheinlich anzunehmen, dass derselbe Vorgang sowohl durch Vorstellungen als durch periphere oder andere, aber nicht psychische Reize ausgelöst werden kann. Das Gegentheil ist zu beweisen, und dazu fehlt noch sehr viel. Ja es scheint sicher, dass viele der hysterisch genannten Phänomene nicht allein durch Vorstellungen verursacht werden.

Betrachten wir einen ganz alltäglichen Fall. Eine Frau bekommt bei jedem Affect an Hals, Brust und Gesicht ein erst fleckiges, dann confluirendes Erythem. Dies ist durch Vorstellungen bedingt und also nach Möbius ein hysterisches Phänomen. Dasselbe Erythem tritt aber, wenn auch in geringerer Ausbreitung bei Hautreiz auf, bei Berührung

Lungenphthise. Solche empirisch gewonnene Krankheitsbilder werden durch den Fortschritt unserer Erkenntniss geläutert, vertieft, erklärt; sie sollen und können dadurch aber nicht zerstört werden. Die ätiologische Forschung hat gezeigt, dass die verschiedenen Theilprocesse der Lungenphthise durch verschiedene Krankheitsursachen bedingt sind; der Tuberkel durch den Bacillus Kochii, der Gewebszerfall, die Cavernenbildung, das septische Fieber durch andere Mikroben. Trotzdem bleibt die tuberculöse Phthise eine klinische Einheit, und es wäre unrichtig, sie dadurch zu zerstören, dass man nur die „specifisch tuberculösen“, durch den Bacillus Koch's bedingten Gewebsveränderungen ihr zuschreiben, die anderen von ihr loslösen wollte. – Ebenso muss die klinische Einheit der Hysterie erhalten bleiben, auch wenn sich herausstellt, dass ihre Phänomene durch verschiedene Ursachen bedingt sind, die einen durch einen psychischen Mechanismus, die anderen ohne solchen zustande kommen.

Das ist nun meiner Ueberzeugung nach wirklich der Fall. Nur ein Theil der hysterischen Phänomene ist ideogen, und die Annahme der Möbius'schen Definition reisst die klinische Einheit der Hysterie, ja auch die Einheit eines und desselben Symptoms bei einem und demselben Kranken mitten entzwei.

Es wäre ein dem Analogieschluss Möbius' ganz analoger Schluss: „Weil sehr oft Vorstellungen und Wahrnehmungen die Erection hervorrufen, nehmen wir an, dass sie allein es immer thun, und dass auch die peripheren Reize erst auf dem Umwege über die Psyche jenen vasomotorischen Vorgang auslösen.“ Wir wissen, dass das ein Irrthum wäre, und doch lägen diesem Schluss gewiss so viele Thatsachen zu Grunde wie dem Satz Möbius' betreffs der Hysterie. In Analogie mit einer grossen Zahl physiologischer Vorgänge, wie Speichel- und Thränensecretion, Veränderung der Herzaction u. dgl. ist als möglich und wahrscheinlich anzunehmen, dass derselbe Vorgang sowohl durch Vorstellungen als durch periphere oder andere, aber nicht psychische Reize ausgelöst werden kann. Das Gegentheil ist zu beweisen, und dazu fehlt noch sehr viel. Ja es scheint sicher, dass viele der hysterisch genannten Phänomene nicht allein durch Vorstellungen verursacht werden.

Betrachten wir einen ganz alltäglichen Fall. Eine Frau bekommt bei jedem Affect an Hals, Brust und Gesicht ein erst fleckiges, dann confluirendes Erythem. Dies ist durch Vorstellungen bedingt und also nach Möbius ein hysterisches Phänomen. Dasselbe Erythem tritt aber, wenn auch in geringerer Ausbreitung bei Hautreiz auf, bei Berührung

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Lungenphthise. Solche empirisch gewonnene Krankheitsbilder werden durch den Fortschritt unserer Erkenntniss geläutert, vertieft, erklärt; sie sollen und können dadurch aber nicht zerstört werden. Die ätiologische Forschung hat gezeigt, dass die verschiedenen Theilprocesse der Lungenphthise durch verschiedene Krankheitsursachen bedingt sind; der Tuberkel durch den Bacillus <hi rendition="#g">Kochii</hi>, der Gewebszerfall, die Cavernenbildung, das septische Fieber durch andere Mikroben. Trotzdem bleibt die tuberculöse Phthise eine klinische Einheit, und es wäre unrichtig, sie dadurch zu zerstören, dass man nur die &#x201E;specifisch tuberculösen&#x201C;, durch den Bacillus <hi rendition="#g">Koch's</hi> bedingten Gewebsveränderungen ihr zuschreiben, die anderen von ihr loslösen wollte. &#x2013; Ebenso muss die klinische Einheit der Hysterie erhalten bleiben, auch wenn sich herausstellt, dass ihre Phänomene durch verschiedene Ursachen bedingt sind, die einen durch einen psychischen Mechanismus, die anderen ohne solchen zustande kommen.</p>
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[163/0169] Lungenphthise. Solche empirisch gewonnene Krankheitsbilder werden durch den Fortschritt unserer Erkenntniss geläutert, vertieft, erklärt; sie sollen und können dadurch aber nicht zerstört werden. Die ätiologische Forschung hat gezeigt, dass die verschiedenen Theilprocesse der Lungenphthise durch verschiedene Krankheitsursachen bedingt sind; der Tuberkel durch den Bacillus Kochii, der Gewebszerfall, die Cavernenbildung, das septische Fieber durch andere Mikroben. Trotzdem bleibt die tuberculöse Phthise eine klinische Einheit, und es wäre unrichtig, sie dadurch zu zerstören, dass man nur die „specifisch tuberculösen“, durch den Bacillus Koch's bedingten Gewebsveränderungen ihr zuschreiben, die anderen von ihr loslösen wollte. – Ebenso muss die klinische Einheit der Hysterie erhalten bleiben, auch wenn sich herausstellt, dass ihre Phänomene durch verschiedene Ursachen bedingt sind, die einen durch einen psychischen Mechanismus, die anderen ohne solchen zustande kommen. Das ist nun meiner Ueberzeugung nach wirklich der Fall. Nur ein Theil der hysterischen Phänomene ist ideogen, und die Annahme der Möbius'schen Definition reisst die klinische Einheit der Hysterie, ja auch die Einheit eines und desselben Symptoms bei einem und demselben Kranken mitten entzwei. Es wäre ein dem Analogieschluss Möbius' ganz analoger Schluss: „Weil sehr oft Vorstellungen und Wahrnehmungen die Erection hervorrufen, nehmen wir an, dass sie allein es immer thun, und dass auch die peripheren Reize erst auf dem Umwege über die Psyche jenen vasomotorischen Vorgang auslösen.“ Wir wissen, dass das ein Irrthum wäre, und doch lägen diesem Schluss gewiss so viele Thatsachen zu Grunde wie dem Satz Möbius' betreffs der Hysterie. In Analogie mit einer grossen Zahl physiologischer Vorgänge, wie Speichel- und Thränensecretion, Veränderung der Herzaction u. dgl. ist als möglich und wahrscheinlich anzunehmen, dass derselbe Vorgang sowohl durch Vorstellungen als durch periphere oder andere, aber nicht psychische Reize ausgelöst werden kann. Das Gegentheil ist zu beweisen, und dazu fehlt noch sehr viel. Ja es scheint sicher, dass viele der hysterisch genannten Phänomene nicht allein durch Vorstellungen verursacht werden. Betrachten wir einen ganz alltäglichen Fall. Eine Frau bekommt bei jedem Affect an Hals, Brust und Gesicht ein erst fleckiges, dann confluirendes Erythem. Dies ist durch Vorstellungen bedingt und also nach Möbius ein hysterisches Phänomen. Dasselbe Erythem tritt aber, wenn auch in geringerer Ausbreitung bei Hautreiz auf, bei Berührung

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/169>, abgerufen am 29.03.2024.