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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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präsent, so dass niemand davon wusste. Neben den Beschäftigungen der Häuslichkeit, die sie tadellos versorgte, gieng diese geistige Thätigkeit fast fortlaufend einher. Ich werde dann zu berichten haben, wie unmittelbar diese gewohnheitsmässige Träumerei der Gesunden in Krankheit übergieng.

Der Krankheitsverlauf zerfällt in mehrere gut getrennte Phasen; es sind:

A) die latente Incubation. Mitte Juli 1880 bis etwa 10. December. In diese Phase, die sich in den meisten Fällen unserer Kenntnis entzieht, gewährte die Eigenart dieses Falles so vollständigen Einblick, dass ich schon deshalb sein pathologisches Interesse nicht gering anschlage. Ich werde diesen Theil der Geschichte später darlegen.
B) die manifeste Erkrankung; eine eigenthümliche Psychose, Paraphasie, Strabismus convergens, schwere Sehstörungen, Contracturlähmungen, vollständig in der rechten obern, beiden untern Extremitäten, unvollständig in der linken obern Extremität, Parese der Nackenmusculatur. Allmähliche Reduction der Contractur auf die rechtseitigen Extremitäten. Einige Besserung, unterbrochen durch ein schweres psychisches Trauma (Tod des Vaters) im April, auf welche
C) eine Periode andauernden Somnambulismus folgt, der dann mit normaleren Zuständen alternirt; Fortbestand einer Reihe von Dauersymptomen bis December 1880.
D) Allmähliche Abwicklung der Zustände und Phänomene bis Juni 1882.

Im Juli 1880 erkrankte der Vater der Patientin, den sie leidenschaftlich liebte, an einem peripleuritischen Abscess, der nicht ausheilte und dem er im April 1881 erlag. Während der ersten Monate dieser Erkrankung widmete sich Anna der Krankenpflege mit der ganzen Energie ihres Wesens, und es nahm niemand sehr Wunder, dass sie dabei allmählich stark herabkam. Niemand, vielleicht auch die Kranke selbst nicht, wusste, was in ihr vorgieng; allmählich aber wurde ihr Zustand von Schwäche, Anämie, Ekel vor Nahrung so schlimm, dass sie zu ihrem grössten Schmerze von der Pflege des Kranken entfernt wurde. Den unmittelbaren Anlass bot ein höchst intensiver Husten, wegen dessen ich sie zum erstenmale untersuchte. Es war eine typische Tussis nervosa. Bald wurde ein auffallendes

präsent, so dass niemand davon wusste. Neben den Beschäftigungen der Häuslichkeit, die sie tadellos versorgte, gieng diese geistige Thätigkeit fast fortlaufend einher. Ich werde dann zu berichten haben, wie unmittelbar diese gewohnheitsmässige Träumerei der Gesunden in Krankheit übergieng.

Der Krankheitsverlauf zerfällt in mehrere gut getrennte Phasen; es sind:

A) die latente Incubation. Mitte Juli 1880 bis etwa 10. December. In diese Phase, die sich in den meisten Fällen unserer Kenntnis entzieht, gewährte die Eigenart dieses Falles so vollständigen Einblick, dass ich schon deshalb sein pathologisches Interesse nicht gering anschlage. Ich werde diesen Theil der Geschichte später darlegen.
B) die manifeste Erkrankung; eine eigenthümliche Psychose, Paraphasie, Strabismus convergens, schwere Sehstörungen, Contracturlähmungen, vollständig in der rechten obern, beiden untern Extremitäten, unvollständig in der linken obern Extremität, Parese der Nackenmusculatur. Allmähliche Reduction der Contractur auf die rechtseitigen Extremitäten. Einige Besserung, unterbrochen durch ein schweres psychisches Trauma (Tod des Vaters) im April, auf welche
C) eine Periode andauernden Somnambulismus folgt, der dann mit normaleren Zuständen alternirt; Fortbestand einer Reihe von Dauersymptomen bis December 1880.
D) Allmähliche Abwicklung der Zustände und Phänomene bis Juni 1882.

Im Juli 1880 erkrankte der Vater der Patientin, den sie leidenschaftlich liebte, an einem peripleuritischen Abscess, der nicht ausheilte und dem er im April 1881 erlag. Während der ersten Monate dieser Erkrankung widmete sich Anna der Krankenpflege mit der ganzen Energie ihres Wesens, und es nahm niemand sehr Wunder, dass sie dabei allmählich stark herabkam. Niemand, vielleicht auch die Kranke selbst nicht, wusste, was in ihr vorgieng; allmählich aber wurde ihr Zustand von Schwäche, Anämie, Ekel vor Nahrung so schlimm, dass sie zu ihrem grössten Schmerze von der Pflege des Kranken entfernt wurde. Den unmittelbaren Anlass bot ein höchst intensiver Husten, wegen dessen ich sie zum erstenmale untersuchte. Es war eine typische Tussis nervosa. Bald wurde ein auffallendes

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[16/0022] präsent, so dass niemand davon wusste. Neben den Beschäftigungen der Häuslichkeit, die sie tadellos versorgte, gieng diese geistige Thätigkeit fast fortlaufend einher. Ich werde dann zu berichten haben, wie unmittelbar diese gewohnheitsmässige Träumerei der Gesunden in Krankheit übergieng. Der Krankheitsverlauf zerfällt in mehrere gut getrennte Phasen; es sind: A) die latente Incubation. Mitte Juli 1880 bis etwa 10. December. In diese Phase, die sich in den meisten Fällen unserer Kenntnis entzieht, gewährte die Eigenart dieses Falles so vollständigen Einblick, dass ich schon deshalb sein pathologisches Interesse nicht gering anschlage. Ich werde diesen Theil der Geschichte später darlegen. B) die manifeste Erkrankung; eine eigenthümliche Psychose, Paraphasie, Strabismus convergens, schwere Sehstörungen, Contracturlähmungen, vollständig in der rechten obern, beiden untern Extremitäten, unvollständig in der linken obern Extremität, Parese der Nackenmusculatur. Allmähliche Reduction der Contractur auf die rechtseitigen Extremitäten. Einige Besserung, unterbrochen durch ein schweres psychisches Trauma (Tod des Vaters) im April, auf welche C) eine Periode andauernden Somnambulismus folgt, der dann mit normaleren Zuständen alternirt; Fortbestand einer Reihe von Dauersymptomen bis December 1880. D) Allmähliche Abwicklung der Zustände und Phänomene bis Juni 1882. Im Juli 1880 erkrankte der Vater der Patientin, den sie leidenschaftlich liebte, an einem peripleuritischen Abscess, der nicht ausheilte und dem er im April 1881 erlag. Während der ersten Monate dieser Erkrankung widmete sich Anna der Krankenpflege mit der ganzen Energie ihres Wesens, und es nahm niemand sehr Wunder, dass sie dabei allmählich stark herabkam. Niemand, vielleicht auch die Kranke selbst nicht, wusste, was in ihr vorgieng; allmählich aber wurde ihr Zustand von Schwäche, Anämie, Ekel vor Nahrung so schlimm, dass sie zu ihrem grössten Schmerze von der Pflege des Kranken entfernt wurde. Den unmittelbaren Anlass bot ein höchst intensiver Husten, wegen dessen ich sie zum erstenmale untersuchte. Es war eine typische Tussis nervosa. Bald wurde ein auffallendes

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/22>, abgerufen am 29.03.2024.