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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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ihre innere Bescheidenheit und die Feinheit ihrer Umgangsformen sie auch als Dame achtenswert erscheinen liess. Eine solche Frau eine "Degenerirte" zu nennen, heisst die Bedeutung dieses Wortes bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Man thut gut daran, die "disponirten" Menschen von den "degenerirten" begrifflich zu sondern, sonst wird man sich zum Zugeständnis gezwungen sehen, dass die Menschheit einen guten Theil ihrer grossen Errungenschaften den Anstrengungen "degenerirter" Individuen zu verdanken hat.

Ich gestehe auch, ich kann in der Geschichte der Frau v. N. nichts von der "psychischen Minderleistung" finden, aufweiche P. Janet die Entstehung der Hysterie zurückführt. Die hysterische Disposition bestünde nach ihm in einer abnormen Enge des Bewusstseinsfeldes (infolge hereditärer Degeneration), welche zur Vernachlässigung ganzer Reihen von Wahrnehmungen, in weiterer Folge zum Zerfall des Ich und zur Organisirung secundärer Persönlichkeiten Anlass gibt. Demnach müsste auch der Rest des Ich, nach Abzug der hysterisch organisirten psychischen Gruppen, minder leistungsfähig sein als das normale Ich, und in der That ist nach Janet dieses Ich bei den Hysterischen mit psychischen Stigmaten belastet, zum Monoideismus verurtheilt und der gewöhnlichen Willensleistungen des Lebens unfähig. Ich meine, Janet hat hier Folgezustände der hysterischen Bewusstseinsveränderung mit Unrecht zu dem Rang von primären Bedingungen der Hysterie erhoben. Das Thema ist einer eingehenderen Behandlung an anderer Stelle wert; bei Frau v. N. aber war von solcher Minderleistung nichts zu bemerken. Während der Periode ihrer schwersten Zustände war und blieb sie fähig, ihren Antheil an der Leitung eines grossen industriellen Unternehmens zu besorgen, die Erziehung ihrer Kinder niemals aus den Augen zu verlieren, ihren Briefverkehr mit geistig hervorragenden Personen fortzusetzen, kurz allen ihren Pflichten soweit nachzukommen, dass ihr Kranksein verborgen bleiben konnte. Ich sollte doch meinen, das ergäbe ein ansehnliches Maass von psychischer Ueberleistung, das vielleicht auf die Dauer nicht haltbar war, das zu einer Erschöpfung, zur sekundären "Misere psychologique" führen müsste. Wahrscheinlich begannen zur Zeit, da ich sie zuerst sah, bereits solche Störungen ihrer Leistungsfähigkeit sich fühlbar zu machen, aber jedenfalls hatte schwere Hysterie lange Jahre vor diesen Symptomen der Erschöpfung bestanden.

ihre innere Bescheidenheit und die Feinheit ihrer Umgangsformen sie auch als Dame achtenswert erscheinen liess. Eine solche Frau eine „Degenerirte“ zu nennen, heisst die Bedeutung dieses Wortes bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Man thut gut daran, die „disponirten“ Menschen von den „degenerirten“ begrifflich zu sondern, sonst wird man sich zum Zugeständnis gezwungen sehen, dass die Menschheit einen guten Theil ihrer grossen Errungenschaften den Anstrengungen „degenerirter“ Individuen zu verdanken hat.

Ich gestehe auch, ich kann in der Geschichte der Frau v. N. nichts von der „psychischen Minderleistung“ finden, aufweiche P. Janet die Entstehung der Hysterie zurückführt. Die hysterische Disposition bestünde nach ihm in einer abnormen Enge des Bewusstseinsfeldes (infolge hereditärer Degeneration), welche zur Vernachlässigung ganzer Reihen von Wahrnehmungen, in weiterer Folge zum Zerfall des Ich und zur Organisirung secundärer Persönlichkeiten Anlass gibt. Demnach müsste auch der Rest des Ich, nach Abzug der hysterisch organisirten psychischen Gruppen, minder leistungsfähig sein als das normale Ich, und in der That ist nach Janet dieses Ich bei den Hysterischen mit psychischen Stigmaten belastet, zum Monoideismus verurtheilt und der gewöhnlichen Willensleistungen des Lebens unfähig. Ich meine, Janet hat hier Folgezustände der hysterischen Bewusstseinsveränderung mit Unrecht zu dem Rang von primären Bedingungen der Hysterie erhoben. Das Thema ist einer eingehenderen Behandlung an anderer Stelle wert; bei Frau v. N. aber war von solcher Minderleistung nichts zu bemerken. Während der Periode ihrer schwersten Zustände war und blieb sie fähig, ihren Antheil an der Leitung eines grossen industriellen Unternehmens zu besorgen, die Erziehung ihrer Kinder niemals aus den Augen zu verlieren, ihren Briefverkehr mit geistig hervorragenden Personen fortzusetzen, kurz allen ihren Pflichten soweit nachzukommen, dass ihr Kranksein verborgen bleiben konnte. Ich sollte doch meinen, das ergäbe ein ansehnliches Maass von psychischer Ueberleistung, das vielleicht auf die Dauer nicht haltbar war, das zu einer Erschöpfung, zur sekundären „Misere psychologique“ führen müsste. Wahrscheinlich begannen zur Zeit, da ich sie zuerst sah, bereits solche Störungen ihrer Leistungsfähigkeit sich fühlbar zu machen, aber jedenfalls hatte schwere Hysterie lange Jahre vor diesen Symptomen der Erschöpfung bestanden.

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[89/0095] ihre innere Bescheidenheit und die Feinheit ihrer Umgangsformen sie auch als Dame achtenswert erscheinen liess. Eine solche Frau eine „Degenerirte“ zu nennen, heisst die Bedeutung dieses Wortes bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Man thut gut daran, die „disponirten“ Menschen von den „degenerirten“ begrifflich zu sondern, sonst wird man sich zum Zugeständnis gezwungen sehen, dass die Menschheit einen guten Theil ihrer grossen Errungenschaften den Anstrengungen „degenerirter“ Individuen zu verdanken hat. Ich gestehe auch, ich kann in der Geschichte der Frau v. N. nichts von der „psychischen Minderleistung“ finden, aufweiche P. Janet die Entstehung der Hysterie zurückführt. Die hysterische Disposition bestünde nach ihm in einer abnormen Enge des Bewusstseinsfeldes (infolge hereditärer Degeneration), welche zur Vernachlässigung ganzer Reihen von Wahrnehmungen, in weiterer Folge zum Zerfall des Ich und zur Organisirung secundärer Persönlichkeiten Anlass gibt. Demnach müsste auch der Rest des Ich, nach Abzug der hysterisch organisirten psychischen Gruppen, minder leistungsfähig sein als das normale Ich, und in der That ist nach Janet dieses Ich bei den Hysterischen mit psychischen Stigmaten belastet, zum Monoideismus verurtheilt und der gewöhnlichen Willensleistungen des Lebens unfähig. Ich meine, Janet hat hier Folgezustände der hysterischen Bewusstseinsveränderung mit Unrecht zu dem Rang von primären Bedingungen der Hysterie erhoben. Das Thema ist einer eingehenderen Behandlung an anderer Stelle wert; bei Frau v. N. aber war von solcher Minderleistung nichts zu bemerken. Während der Periode ihrer schwersten Zustände war und blieb sie fähig, ihren Antheil an der Leitung eines grossen industriellen Unternehmens zu besorgen, die Erziehung ihrer Kinder niemals aus den Augen zu verlieren, ihren Briefverkehr mit geistig hervorragenden Personen fortzusetzen, kurz allen ihren Pflichten soweit nachzukommen, dass ihr Kranksein verborgen bleiben konnte. Ich sollte doch meinen, das ergäbe ein ansehnliches Maass von psychischer Ueberleistung, das vielleicht auf die Dauer nicht haltbar war, das zu einer Erschöpfung, zur sekundären „Misere psychologique“ führen müsste. Wahrscheinlich begannen zur Zeit, da ich sie zuerst sah, bereits solche Störungen ihrer Leistungsfähigkeit sich fühlbar zu machen, aber jedenfalls hatte schwere Hysterie lange Jahre vor diesen Symptomen der Erschöpfung bestanden.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/95>, abgerufen am 24.04.2024.