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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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einen grossen Theil des Tags über offen sind.*) Die
Nachtviole (Hesperis tristis) und der traurige Storch-
schnabel (Geranium triste) verbreiten nur nach Sonnen-
untergang ihren angenehmen Nelkengeruch; dieß sind lau-
ter Beweise einer sehr merklichen Empfänglichkeit äuße-
rer Einwirkungen. Es ist eine alltägliche Erfahrung bey
den Gärtnern, daß diejenigen Pflanzen, welche man,
wenn sie sehr erwärmt sind, mit frischem Wasser be-
gießet, in ihrem Wachsthum alsogleich aufgehalten
werden, verbutten. Die meisten Gewächse sehnen
sich nach freyer Luft; sie neigen sich in Zimmern, in
Treibhäusern und vor den Fenstern immer nach der
lichtesten Gegend, und dringen durch Löcher und Ri-
tze durch; andere senken sich nach dem Wasser oder
der Erde, wie dieses überhaupt alle Wurzeln zu thun
pflegen. Stehen sie in einer eingeschlossenen Wärme,
oder zwischen andern dichten Gewächsen, so steigen sie,
obschon sie von keiner Seite berührt werden, gerade
in die Höhe; ihre Glieder und Zweige werden viel
länger; der ganze Wuchs wird schlank und rankicht,
aber zugleich biegsamer, bleicher, grasartiger, und
sie tragen nur matte oder keine Früchten, da sie sich
in einem freyen Stande mit Wucher ausgebreitet, mit
dauerbarem Holze und vollkommenen Früchten besetzt
hätten. Werden sie in diesem zärtlichen Zustande
gählings der freyen Luft und dem Sonnenlichte ausge-
setzt, so lassen sie die Blätter sinken, und sterben
an einer Art von Eintröcknung und Fäulung. Sehen
wir nicht die nämliche Wirkung von einerley Ursache

bey
*) Lueder Botanisch, praktische Lustgartnerey.

einen groſſen Theil des Tags uͤber offen ſind.*) Die
Nachtviole (Hesperis triſtis) und der traurige Storch-
ſchnabel (Geranium triſte) verbreiten nur nach Sonnen-
untergang ihren angenehmen Nelkengeruch; dieß ſind lau-
ter Beweiſe einer ſehr merklichen Empfaͤnglichkeit aͤuße-
rer Einwirkungen. Es iſt eine alltaͤgliche Erfahrung bey
den Gaͤrtnern, daß diejenigen Pflanzen, welche man,
wenn ſie ſehr erwaͤrmt ſind, mit friſchem Waſſer be-
gießet, in ihrem Wachsthum alſogleich aufgehalten
werden, verbutten. Die meiſten Gewaͤchſe ſehnen
ſich nach freyer Luft; ſie neigen ſich in Zimmern, in
Treibhaͤuſern und vor den Fenſtern immer nach der
lichteſten Gegend, und dringen durch Loͤcher und Ri-
tze durch; andere ſenken ſich nach dem Waſſer oder
der Erde, wie dieſes uͤberhaupt alle Wurzeln zu thun
pflegen. Stehen ſie in einer eingeſchloſſenen Waͤrme,
oder zwiſchen andern dichten Gewaͤchſen, ſo ſteigen ſie,
obſchon ſie von keiner Seite beruͤhrt werden, gerade
in die Hoͤhe; ihre Glieder und Zweige werden viel
laͤnger; der ganze Wuchs wird ſchlank und rankicht,
aber zugleich biegſamer, bleicher, grasartiger, und
ſie tragen nur matte oder keine Fruͤchten, da ſie ſich
in einem freyen Stande mit Wucher ausgebreitet, mit
dauerbarem Holze und vollkommenen Fruͤchten beſetzt
haͤtten. Werden ſie in dieſem zaͤrtlichen Zuſtande
gaͤhlings der freyen Luft und dem Sonnenlichte ausge-
ſetzt, ſo laſſen ſie die Blaͤtter ſinken, und ſterben
an einer Art von Eintroͤcknung und Faͤulung. Sehen
wir nicht die naͤmliche Wirkung von einerley Urſache

bey
*) Lueder Botaniſch, praktiſche Luſtgartnerey.
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[154/0173] einen groſſen Theil des Tags uͤber offen ſind. *) Die Nachtviole (Hesperis triſtis) und der traurige Storch- ſchnabel (Geranium triſte) verbreiten nur nach Sonnen- untergang ihren angenehmen Nelkengeruch; dieß ſind lau- ter Beweiſe einer ſehr merklichen Empfaͤnglichkeit aͤuße- rer Einwirkungen. Es iſt eine alltaͤgliche Erfahrung bey den Gaͤrtnern, daß diejenigen Pflanzen, welche man, wenn ſie ſehr erwaͤrmt ſind, mit friſchem Waſſer be- gießet, in ihrem Wachsthum alſogleich aufgehalten werden, verbutten. Die meiſten Gewaͤchſe ſehnen ſich nach freyer Luft; ſie neigen ſich in Zimmern, in Treibhaͤuſern und vor den Fenſtern immer nach der lichteſten Gegend, und dringen durch Loͤcher und Ri- tze durch; andere ſenken ſich nach dem Waſſer oder der Erde, wie dieſes uͤberhaupt alle Wurzeln zu thun pflegen. Stehen ſie in einer eingeſchloſſenen Waͤrme, oder zwiſchen andern dichten Gewaͤchſen, ſo ſteigen ſie, obſchon ſie von keiner Seite beruͤhrt werden, gerade in die Hoͤhe; ihre Glieder und Zweige werden viel laͤnger; der ganze Wuchs wird ſchlank und rankicht, aber zugleich biegſamer, bleicher, grasartiger, und ſie tragen nur matte oder keine Fruͤchten, da ſie ſich in einem freyen Stande mit Wucher ausgebreitet, mit dauerbarem Holze und vollkommenen Fruͤchten beſetzt haͤtten. Werden ſie in dieſem zaͤrtlichen Zuſtande gaͤhlings der freyen Luft und dem Sonnenlichte ausge- ſetzt, ſo laſſen ſie die Blaͤtter ſinken, und ſterben an einer Art von Eintroͤcknung und Faͤulung. Sehen wir nicht die naͤmliche Wirkung von einerley Urſache bey *) Lueder Botaniſch, praktiſche Luſtgartnerey.

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/173>, abgerufen am 25.04.2024.