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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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§. 5.
Erforschung der Grundursachen dieser Anstalten.

Es wäre genug gewesen, wenn man sich um die
Natur und die Gränzen dieser gütigen Vorkehrungen
bekümmert hätte; allein die Forscher der Grundursa-
chen wagten auch da wieder einen zu kühnen Schwung,
dessen Erfolg bestättigt hat, daß der Mensch umsonst
nach Dingen strebe, für welche er keine Sinne hat,
und die folglich schlechterdings nicht in das Gebiet sei-
ner Erkenntniß gehören.

Man hatte im Menschen wesentliche Eigenschaf-
ten entdeckt, die ihm vor dem übrigen Thierreiche einen
unstreitigen Vorzug geben. Der Mensch erhöhet und
vervielfältiget seine Sinnlichkeit durch seine Vernunft;
er unterscheidet das Zukünftige und Gegenwärtige vom
Vergangenen; er erkennet mit inniger Lust die Schön-
heiten und die Gesetze der Natur und der Kunst; er
sehnt sich nach Wahrheit, und findet in ihr Genug-
thuung; er erforschet und ergründet die Ursachen und
den Zusammenhang der Dinge; er wird durch die Er-
fahrung und die Geschichte belehrt und klüger; nimmt
Antheil an Gesprächen und Witz; freuet sich über
eigene und fremde Vollkommenheiten; er zweifelt und
wird überführt; seine Fähigkeiten und die Begierde
seines Willens zu einer immer höhern Vollkommenheit
sind unbeschränkt; er erkennet Recht und Unrecht;
Verstand und Religion verheißen ihm Unsterblichkeit;
er sieht und verehrt überall den Urheber alles dessen,
was ober und unter ihm ist.


Der
§. 5.
Erforſchung der Grundurſachen dieſer Anſtalten.

Es waͤre genug geweſen, wenn man ſich um die
Natur und die Graͤnzen dieſer guͤtigen Vorkehrungen
bekuͤmmert haͤtte; allein die Forſcher der Grundurſa-
chen wagten auch da wieder einen zu kuͤhnen Schwung,
deſſen Erfolg beſtaͤttigt hat, daß der Menſch umſonſt
nach Dingen ſtrebe, fuͤr welche er keine Sinne hat,
und die folglich ſchlechterdings nicht in das Gebiet ſei-
ner Erkenntniß gehoͤren.

Man hatte im Menſchen weſentliche Eigenſchaf-
ten entdeckt, die ihm vor dem uͤbrigen Thierreiche einen
unſtreitigen Vorzug geben. Der Menſch erhoͤhet und
vervielfaͤltiget ſeine Sinnlichkeit durch ſeine Vernunft;
er unterſcheidet das Zukuͤnftige und Gegenwaͤrtige vom
Vergangenen; er erkennet mit inniger Luſt die Schoͤn-
heiten und die Geſetze der Natur und der Kunſt; er
ſehnt ſich nach Wahrheit, und findet in ihr Genug-
thuung; er erforſchet und ergruͤndet die Urſachen und
den Zuſammenhang der Dinge; er wird durch die Er-
fahrung und die Geſchichte belehrt und kluͤger; nimmt
Antheil an Geſpraͤchen und Witz; freuet ſich uͤber
eigene und fremde Vollkommenheiten; er zweifelt und
wird uͤberfuͤhrt; ſeine Faͤhigkeiten und die Begierde
ſeines Willens zu einer immer hoͤhern Vollkommenheit
ſind unbeſchraͤnkt; er erkennet Recht und Unrecht;
Verſtand und Religion verheißen ihm Unſterblichkeit;
er ſieht und verehrt uͤberall den Urheber alles deſſen,
was ober und unter ihm iſt.


Der
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[5/0024] §. 5. Erforſchung der Grundurſachen dieſer Anſtalten. Es waͤre genug geweſen, wenn man ſich um die Natur und die Graͤnzen dieſer guͤtigen Vorkehrungen bekuͤmmert haͤtte; allein die Forſcher der Grundurſa- chen wagten auch da wieder einen zu kuͤhnen Schwung, deſſen Erfolg beſtaͤttigt hat, daß der Menſch umſonſt nach Dingen ſtrebe, fuͤr welche er keine Sinne hat, und die folglich ſchlechterdings nicht in das Gebiet ſei- ner Erkenntniß gehoͤren. Man hatte im Menſchen weſentliche Eigenſchaf- ten entdeckt, die ihm vor dem uͤbrigen Thierreiche einen unſtreitigen Vorzug geben. Der Menſch erhoͤhet und vervielfaͤltiget ſeine Sinnlichkeit durch ſeine Vernunft; er unterſcheidet das Zukuͤnftige und Gegenwaͤrtige vom Vergangenen; er erkennet mit inniger Luſt die Schoͤn- heiten und die Geſetze der Natur und der Kunſt; er ſehnt ſich nach Wahrheit, und findet in ihr Genug- thuung; er erforſchet und ergruͤndet die Urſachen und den Zuſammenhang der Dinge; er wird durch die Er- fahrung und die Geſchichte belehrt und kluͤger; nimmt Antheil an Geſpraͤchen und Witz; freuet ſich uͤber eigene und fremde Vollkommenheiten; er zweifelt und wird uͤberfuͤhrt; ſeine Faͤhigkeiten und die Begierde ſeines Willens zu einer immer hoͤhern Vollkommenheit ſind unbeſchraͤnkt; er erkennet Recht und Unrecht; Verſtand und Religion verheißen ihm Unſterblichkeit; er ſieht und verehrt uͤberall den Urheber alles deſſen, was ober und unter ihm iſt. Der

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/24>, abgerufen am 29.03.2024.