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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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Ehemals glaubte ich, man könnte die Stufen
der Entkräftung bestimmen, wenn man annähme, daß
die verschiedenen Verrichtungen der verschiedenen Werk-
zeuge zu ihrer Vollkommenheit einen verschiedenen Grad
von Kraft erfordern -- und alsdann die Entkräftung
aufs höchste gestiegen wäre, wenn diejenigen Verrich-
tungen, wozu die geringste Kraft erfordert wird, aus
Kraftlosigkeit verletzt oder gar gehemmt sind. So
hielt ich es mit Insenflam*) für ein Zeichen der
grösten Entkräftung, wenn einem Kranken die Flüßig-
keiten wieder aus dem Munde laufen, und er schwere
Anstalten macht, die Zunge vorzuzeigen. Zuverläßig
ist der Kranke, der die Muskeln der Backen, des
Mundes, der Zunge, des Schlundes nimmer in or-
dentliche und willkührliche Bewegung versetzen kann,
viel schwächer, als derjenige, welchem der Kopf, der
Rumpf, die Arme zu schwer geworden sind, der nim-
mer auf der Seite liegen, oder sich in keiner geraden
Richtung mehr erhalten kann. In manchen Fällen
ist dieser Maaßstab richtig, und es wäre zu wünschen,
daß die Aerzte jedesmal das aus Kraftlosigkeit ent-
standene Unvermögen genauer anzeigten, statt der un-
bestimmten, schwankenden Ausdrücke: Der Kranke
war sehr, oder äußerst schwach. -- Aber wir können
nicht überall einen für die Heilkunde nützlichen Gebrauch
davon machen, und es kann uns bey diesem Verfah-
ren ein Kranker in den Armen sterben, denn wir noch
bey weitem nicht für sehr entkräftet gehalten hätten.


§. 57.
*) Prakt. Bemerk. über die Muskeln.

Ehemals glaubte ich, man koͤnnte die Stufen
der Entkraͤftung beſtimmen, wenn man annaͤhme, daß
die verſchiedenen Verrichtungen der verſchiedenen Werk-
zeuge zu ihrer Vollkommenheit einen verſchiedenen Grad
von Kraft erfordern — und alsdann die Entkraͤftung
aufs hoͤchſte geſtiegen waͤre, wenn diejenigen Verrich-
tungen, wozu die geringſte Kraft erfordert wird, aus
Kraftloſigkeit verletzt oder gar gehemmt ſind. So
hielt ich es mit Inſenflam*) fuͤr ein Zeichen der
groͤſten Entkraͤftung, wenn einem Kranken die Fluͤßig-
keiten wieder aus dem Munde laufen, und er ſchwere
Anſtalten macht, die Zunge vorzuzeigen. Zuverlaͤßig
iſt der Kranke, der die Muskeln der Backen, des
Mundes, der Zunge, des Schlundes nimmer in or-
dentliche und willkuͤhrliche Bewegung verſetzen kann,
viel ſchwaͤcher, als derjenige, welchem der Kopf, der
Rumpf, die Arme zu ſchwer geworden ſind, der nim-
mer auf der Seite liegen, oder ſich in keiner geraden
Richtung mehr erhalten kann. In manchen Faͤllen
iſt dieſer Maaßſtab richtig, und es waͤre zu wuͤnſchen,
daß die Aerzte jedesmal das aus Kraftloſigkeit ent-
ſtandene Unvermoͤgen genauer anzeigten, ſtatt der un-
beſtimmten, ſchwankenden Ausdruͤcke: Der Kranke
war ſehr, oder aͤußerſt ſchwach. — Aber wir koͤnnen
nicht uͤberall einen fuͤr die Heilkunde nuͤtzlichen Gebrauch
davon machen, und es kann uns bey dieſem Verfah-
ren ein Kranker in den Armen ſterben, denn wir noch
bey weitem nicht fuͤr ſehr entkraͤftet gehalten haͤtten.


§. 57.
*) Prakt. Bemerk. uͤber die Muskeln.
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[427/0446] Ehemals glaubte ich, man koͤnnte die Stufen der Entkraͤftung beſtimmen, wenn man annaͤhme, daß die verſchiedenen Verrichtungen der verſchiedenen Werk- zeuge zu ihrer Vollkommenheit einen verſchiedenen Grad von Kraft erfordern — und alsdann die Entkraͤftung aufs hoͤchſte geſtiegen waͤre, wenn diejenigen Verrich- tungen, wozu die geringſte Kraft erfordert wird, aus Kraftloſigkeit verletzt oder gar gehemmt ſind. So hielt ich es mit Inſenflam *) fuͤr ein Zeichen der groͤſten Entkraͤftung, wenn einem Kranken die Fluͤßig- keiten wieder aus dem Munde laufen, und er ſchwere Anſtalten macht, die Zunge vorzuzeigen. Zuverlaͤßig iſt der Kranke, der die Muskeln der Backen, des Mundes, der Zunge, des Schlundes nimmer in or- dentliche und willkuͤhrliche Bewegung verſetzen kann, viel ſchwaͤcher, als derjenige, welchem der Kopf, der Rumpf, die Arme zu ſchwer geworden ſind, der nim- mer auf der Seite liegen, oder ſich in keiner geraden Richtung mehr erhalten kann. In manchen Faͤllen iſt dieſer Maaßſtab richtig, und es waͤre zu wuͤnſchen, daß die Aerzte jedesmal das aus Kraftloſigkeit ent- ſtandene Unvermoͤgen genauer anzeigten, ſtatt der un- beſtimmten, ſchwankenden Ausdruͤcke: Der Kranke war ſehr, oder aͤußerſt ſchwach. — Aber wir koͤnnen nicht uͤberall einen fuͤr die Heilkunde nuͤtzlichen Gebrauch davon machen, und es kann uns bey dieſem Verfah- ren ein Kranker in den Armen ſterben, denn wir noch bey weitem nicht fuͤr ſehr entkraͤftet gehalten haͤtten. §. 57. *) Prakt. Bemerk. uͤber die Muskeln.

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/446>, abgerufen am 24.04.2024.