Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite
§. 91.

Die ausübende Heilkunde kann aus diesen Un-
tersuchungen sehr schätzbare Vortheile ziehen, weßwe-
gen ich sie noch etwas weiter ausdehnen will.

Wenn man mit gespannter Aufmerksamkeit Vor-
stellungen mit Vorstellungen vergleicht; Begriffe trennt,
vereinigt, und aus vielfach verflochtenen Gründen ein
richtiges Urtheil sucht, so wird einem das Hirn warm,
der Kopf glüht, die Augen werden empfindlich, die
Ideen drängen sich in leichter Ordnung aufeinander.
Hier ist das Werkzeug des Denkens in dem Zustan-
de einer erhöheten Reitzbarkeit. Bey welchen hinge-
gen entweder aus Mangel an hinlänglicher Hirnmaße,
oder wegen ihrer wäßerichten Schlappheit oder trock-
nen Sprödigkeit, aus Entkräftung des ganzen Kör-
pers oder des Kopfes allein; oder weil alle Reitzbar-
keit schon auf einen andern Theil eingeschränket ist,
kein ähnlicher Zustand bewirkt werden kann, bey de-
nen ist die Reitzbarkeit, die Beweglichkeit der Hirn-
maße zu gering; die Ideen entstehen gar nicht, oder
entwickeln sich träg auseinander; die Eindrücke von
Aussen geschehen langsam und unvollständig. Diese
Leute können durch Wein, durch Fieberhitze, durch
unmäßige Anstrengung der Phantasie etc. zu Rednern,
Dichtern und Wahrsagern umgeschaffen werden. Wäh-
rend dem Zeitpunkt der überspannten Reitzbarkeit des
Gehirnes ist der ganze übrige Körper unempfindlicher;
man hört, sieht, riecht und fühlt nicht, oder nur sehr
dunkel; die Verrichtungen des Magens und der Ge-
därme werden geschwächt; obschon man kurz zuvor

Hun-
§. 91.

Die ausuͤbende Heilkunde kann aus dieſen Un-
terſuchungen ſehr ſchaͤtzbare Vortheile ziehen, weßwe-
gen ich ſie noch etwas weiter ausdehnen will.

Wenn man mit geſpannter Aufmerkſamkeit Vor-
ſtellungen mit Vorſtellungen vergleicht; Begriffe trennt,
vereinigt, und aus vielfach verflochtenen Gruͤnden ein
richtiges Urtheil ſucht, ſo wird einem das Hirn warm,
der Kopf gluͤht, die Augen werden empfindlich, die
Ideen draͤngen ſich in leichter Ordnung aufeinander.
Hier iſt das Werkzeug des Denkens in dem Zuſtan-
de einer erhoͤheten Reitzbarkeit. Bey welchen hinge-
gen entweder aus Mangel an hinlaͤnglicher Hirnmaße,
oder wegen ihrer waͤßerichten Schlappheit oder trock-
nen Sproͤdigkeit, aus Entkraͤftung des ganzen Koͤr-
pers oder des Kopfes allein; oder weil alle Reitzbar-
keit ſchon auf einen andern Theil eingeſchraͤnket iſt,
kein aͤhnlicher Zuſtand bewirkt werden kann, bey de-
nen iſt die Reitzbarkeit, die Beweglichkeit der Hirn-
maße zu gering; die Ideen entſtehen gar nicht, oder
entwickeln ſich traͤg auseinander; die Eindruͤcke von
Auſſen geſchehen langſam und unvollſtaͤndig. Dieſe
Leute koͤnnen durch Wein, durch Fieberhitze, durch
unmaͤßige Anſtrengung der Phantaſie ꝛc. zu Rednern,
Dichtern und Wahrſagern umgeſchaffen werden. Waͤh-
rend dem Zeitpunkt der uͤberſpannten Reitzbarkeit des
Gehirnes iſt der ganze uͤbrige Koͤrper unempfindlicher;
man hoͤrt, ſieht, riecht und fuͤhlt nicht, oder nur ſehr
dunkel; die Verrichtungen des Magens und der Ge-
daͤrme werden geſchwaͤcht; obſchon man kurz zuvor

Hun-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0579" n="560"/>
            <div n="4">
              <head>§. 91.</head><lb/>
              <p>Die ausu&#x0364;bende Heilkunde kann aus die&#x017F;en Un-<lb/>
ter&#x017F;uchungen &#x017F;ehr &#x017F;cha&#x0364;tzbare Vortheile ziehen, weßwe-<lb/>
gen ich &#x017F;ie noch etwas weiter ausdehnen will.</p><lb/>
              <p>Wenn man mit ge&#x017F;pannter Aufmerk&#x017F;amkeit Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen mit Vor&#x017F;tellungen vergleicht; Begriffe trennt,<lb/>
vereinigt, und aus vielfach verflochtenen Gru&#x0364;nden ein<lb/>
richtiges Urtheil &#x017F;ucht, &#x017F;o wird einem das Hirn warm,<lb/>
der Kopf glu&#x0364;ht, die Augen werden empfindlich, die<lb/>
Ideen dra&#x0364;ngen &#x017F;ich in leichter Ordnung aufeinander.<lb/>
Hier i&#x017F;t das Werkzeug des Denkens in dem Zu&#x017F;tan-<lb/>
de einer erho&#x0364;heten Reitzbarkeit. Bey welchen hinge-<lb/>
gen entweder aus Mangel an hinla&#x0364;nglicher Hirnmaße,<lb/>
oder wegen ihrer wa&#x0364;ßerichten Schlappheit oder trock-<lb/>
nen Spro&#x0364;digkeit, aus Entkra&#x0364;ftung des ganzen Ko&#x0364;r-<lb/>
pers oder des Kopfes allein; oder weil alle Reitzbar-<lb/>
keit &#x017F;chon auf einen andern Theil einge&#x017F;chra&#x0364;nket i&#x017F;t,<lb/>
kein a&#x0364;hnlicher Zu&#x017F;tand bewirkt werden kann, bey de-<lb/>
nen i&#x017F;t die Reitzbarkeit, die Beweglichkeit der Hirn-<lb/>
maße zu gering; die Ideen ent&#x017F;tehen gar nicht, oder<lb/>
entwickeln &#x017F;ich tra&#x0364;g auseinander; die Eindru&#x0364;cke von<lb/>
Au&#x017F;&#x017F;en ge&#x017F;chehen lang&#x017F;am und unvoll&#x017F;ta&#x0364;ndig. Die&#x017F;e<lb/>
Leute ko&#x0364;nnen durch Wein, durch Fieberhitze, durch<lb/>
unma&#x0364;ßige An&#x017F;trengung der Phanta&#x017F;ie &#xA75B;c. zu Rednern,<lb/>
Dichtern und Wahr&#x017F;agern umge&#x017F;chaffen werden. Wa&#x0364;h-<lb/>
rend dem Zeitpunkt der u&#x0364;ber&#x017F;pannten Reitzbarkeit des<lb/>
Gehirnes i&#x017F;t der ganze u&#x0364;brige Ko&#x0364;rper unempfindlicher;<lb/>
man ho&#x0364;rt, &#x017F;ieht, riecht und fu&#x0364;hlt nicht, oder nur &#x017F;ehr<lb/>
dunkel; die Verrichtungen des Magens und der Ge-<lb/>
da&#x0364;rme werden ge&#x017F;chwa&#x0364;cht; ob&#x017F;chon man kurz zuvor<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Hun-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[560/0579] §. 91. Die ausuͤbende Heilkunde kann aus dieſen Un- terſuchungen ſehr ſchaͤtzbare Vortheile ziehen, weßwe- gen ich ſie noch etwas weiter ausdehnen will. Wenn man mit geſpannter Aufmerkſamkeit Vor- ſtellungen mit Vorſtellungen vergleicht; Begriffe trennt, vereinigt, und aus vielfach verflochtenen Gruͤnden ein richtiges Urtheil ſucht, ſo wird einem das Hirn warm, der Kopf gluͤht, die Augen werden empfindlich, die Ideen draͤngen ſich in leichter Ordnung aufeinander. Hier iſt das Werkzeug des Denkens in dem Zuſtan- de einer erhoͤheten Reitzbarkeit. Bey welchen hinge- gen entweder aus Mangel an hinlaͤnglicher Hirnmaße, oder wegen ihrer waͤßerichten Schlappheit oder trock- nen Sproͤdigkeit, aus Entkraͤftung des ganzen Koͤr- pers oder des Kopfes allein; oder weil alle Reitzbar- keit ſchon auf einen andern Theil eingeſchraͤnket iſt, kein aͤhnlicher Zuſtand bewirkt werden kann, bey de- nen iſt die Reitzbarkeit, die Beweglichkeit der Hirn- maße zu gering; die Ideen entſtehen gar nicht, oder entwickeln ſich traͤg auseinander; die Eindruͤcke von Auſſen geſchehen langſam und unvollſtaͤndig. Dieſe Leute koͤnnen durch Wein, durch Fieberhitze, durch unmaͤßige Anſtrengung der Phantaſie ꝛc. zu Rednern, Dichtern und Wahrſagern umgeſchaffen werden. Waͤh- rend dem Zeitpunkt der uͤberſpannten Reitzbarkeit des Gehirnes iſt der ganze uͤbrige Koͤrper unempfindlicher; man hoͤrt, ſieht, riecht und fuͤhlt nicht, oder nur ſehr dunkel; die Verrichtungen des Magens und der Ge- daͤrme werden geſchwaͤcht; obſchon man kurz zuvor Hun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/579
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/579>, abgerufen am 24.04.2024.