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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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zu einem Gesetz der Träume geworden, daß bey denje-
nigen Empfindungen, die aus körperlichen Bedürfnis-
sen entstehen, die Phantasie die Gegenstände hinzu-
denke, die geschickt sind, ihnen Befriedigung zu ge-
ben.*) Solche Empfindungen sind nie mit den Vor-
stellungen der erregenden Gegenstände vergesellschaftet.
Wir essen, wenn wir von Hunger träumen, schmack-
hafte Speisen; und wenn die Mannskraft unsere Phan-
tasie in Bewegung bringt, so wirft sie uns auch in
die Arme eines Mädchens.

Der Hamster sieht sich auf den Winter mit
Frucht vor; das Murmelthier bereitet sich sein Winter-
lager; die Schlange kriecht in ihre Höhle; und diese
alle, die Schnecke und der Regenwurm graben sich
desto tiefer unter die Erde, je strenger die Kälte des
folgenden Winters seyn wird; der Guguck zieht in
fremde Gegenden, noch ehe jene Witterung zu Ende
ist, die er anderstwo aufsucht; die Larve des männli-
chen Hirschkäfers gräbt sich bey ihrer Verwandlung ei-
ne Grube, die ihre Länge zweimal übertrift, damit
das Horn, welches jetzt schon entwikelt in ihr liegt,
bequem ausgestreckt werden könne; der Ameisenlöwe
lauert in seiner Sandgrube, ehe er weis, daß es Amei-
sen giebt; die Spinne spannt ihr Netz aus, ehe sie das
Daseyn und die Natur der Fliegen kennt. -- -- Soll
man alles das Vorhersehungen heißen? -- Und hät-
te man da nicht mehr Recht dazu, als bey den so
oft getäuschten, verworrenen, erkünstelten und zufälli-
gen Vorgefühlen der Menschen? -- Diesen Instinkt,

den
*) Tiedemann 3ter Theil S. 143.

zu einem Geſetz der Traͤume geworden, daß bey denje-
nigen Empfindungen, die aus koͤrperlichen Beduͤrfniſ-
ſen entſtehen, die Phantaſie die Gegenſtaͤnde hinzu-
denke, die geſchickt ſind, ihnen Befriedigung zu ge-
ben.*) Solche Empfindungen ſind nie mit den Vor-
ſtellungen der erregenden Gegenſtaͤnde vergeſellſchaftet.
Wir eſſen, wenn wir von Hunger traͤumen, ſchmack-
hafte Speiſen; und wenn die Mannskraft unſere Phan-
taſie in Bewegung bringt, ſo wirft ſie uns auch in
die Arme eines Maͤdchens.

Der Hamſter ſieht ſich auf den Winter mit
Frucht vor; das Murmelthier bereitet ſich ſein Winter-
lager; die Schlange kriecht in ihre Hoͤhle; und dieſe
alle, die Schnecke und der Regenwurm graben ſich
deſto tiefer unter die Erde, je ſtrenger die Kaͤlte des
folgenden Winters ſeyn wird; der Guguck zieht in
fremde Gegenden, noch ehe jene Witterung zu Ende
iſt, die er anderſtwo aufſucht; die Larve des maͤnnli-
chen Hirſchkaͤfers graͤbt ſich bey ihrer Verwandlung ei-
ne Grube, die ihre Laͤnge zweimal uͤbertrift, damit
das Horn, welches jetzt ſchon entwikelt in ihr liegt,
bequem ausgeſtreckt werden koͤnne; der Ameiſenloͤwe
lauert in ſeiner Sandgrube, ehe er weis, daß es Amei-
ſen giebt; die Spinne ſpannt ihr Netz aus, ehe ſie das
Daſeyn und die Natur der Fliegen kennt. — — Soll
man alles das Vorherſehungen heißen? — Und haͤt-
te man da nicht mehr Recht dazu, als bey den ſo
oft getaͤuſchten, verworrenen, erkuͤnſtelten und zufaͤlli-
gen Vorgefuͤhlen der Menſchen? — Dieſen Inſtinkt,

den
*) Tiedemann 3ter Theil S. 143.
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[47/0066] zu einem Geſetz der Traͤume geworden, daß bey denje- nigen Empfindungen, die aus koͤrperlichen Beduͤrfniſ- ſen entſtehen, die Phantaſie die Gegenſtaͤnde hinzu- denke, die geſchickt ſind, ihnen Befriedigung zu ge- ben. *) Solche Empfindungen ſind nie mit den Vor- ſtellungen der erregenden Gegenſtaͤnde vergeſellſchaftet. Wir eſſen, wenn wir von Hunger traͤumen, ſchmack- hafte Speiſen; und wenn die Mannskraft unſere Phan- taſie in Bewegung bringt, ſo wirft ſie uns auch in die Arme eines Maͤdchens. Der Hamſter ſieht ſich auf den Winter mit Frucht vor; das Murmelthier bereitet ſich ſein Winter- lager; die Schlange kriecht in ihre Hoͤhle; und dieſe alle, die Schnecke und der Regenwurm graben ſich deſto tiefer unter die Erde, je ſtrenger die Kaͤlte des folgenden Winters ſeyn wird; der Guguck zieht in fremde Gegenden, noch ehe jene Witterung zu Ende iſt, die er anderſtwo aufſucht; die Larve des maͤnnli- chen Hirſchkaͤfers graͤbt ſich bey ihrer Verwandlung ei- ne Grube, die ihre Laͤnge zweimal uͤbertrift, damit das Horn, welches jetzt ſchon entwikelt in ihr liegt, bequem ausgeſtreckt werden koͤnne; der Ameiſenloͤwe lauert in ſeiner Sandgrube, ehe er weis, daß es Amei- ſen giebt; die Spinne ſpannt ihr Netz aus, ehe ſie das Daſeyn und die Natur der Fliegen kennt. — — Soll man alles das Vorherſehungen heißen? — Und haͤt- te man da nicht mehr Recht dazu, als bey den ſo oft getaͤuſchten, verworrenen, erkuͤnſtelten und zufaͤlli- gen Vorgefuͤhlen der Menſchen? — Dieſen Inſtinkt, den *) Tiedemann 3ter Theil S. 143.

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/66>, abgerufen am 24.04.2024.