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Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.

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Zweiter Abschnitt.
verfassungsmässigen Gränzen der beiden Organe durch
rechtliche Entscheidung gelöst werden, so hat es als ein
Satz des deutschen Staatsrechts zu gelten, 4 dass im
wirklichen Zweifelsfalle die Vermuthung für das Recht
des Monarchen ist.

3. Die äussere Gestaltung der Ständeversammlung.
§. 41.

Die Landstände handeln nicht als Einzelne, sondern
als Gesammtheit in der Gestalt öffentlicher Collegien,
welche sich bei jedem Landtage von Neuem constituiren;
Corporationen sind sie jetzt nicht mehr. 1 In den meisten

so wird auch hier die gegenseitige Abgränzung nicht mit scrupu-
löser Aengstlichkeit gezogen; die Folge davon ist, dass man oft auf
ein non liquet stösst, dessen Erledigung von der vertrauensvollen
Gesinnung erwartet wird, welche man bei beiden Theilen voraus-
setzte. Aber auch darin ist eine Analogie des Verhältnisses der
beiden Staatsorgane zu den übrigen organischen Rechtsverhält-
nissen nicht zu verkennen, dass gemeinschaftlich für sie die
Voraussetzung besteht, die Ausübung der wirklich zustehenden
Rechte werde nur nach Massgabe sittlicher Selbstbeschränkung
erfolgen. Ein Ehegatte kann sich mit den sittlichen Grundlagen
der Ehe im schroffsten Widerspruche befinden, und doch kann
man ihm nicht nachweisen, dass seine Handlungen andere als
rechtmässige seien; "er gebraucht nur sein Recht!" So kann eine
Regierung durch rücksichtslose Ausübung ihrer Rechte die Volks-
vertretung nahezu illusorisch machen, wie nicht minder eine rück-
sichtslose Volksvertretung die Regierung lahm legen und willenlos
zu machen vermag. Und beide gebrauchen "nur ihr Recht." Es
ist ein weit verbreiteter thörichter Irrthum, zu glauben, dass man
stets gerechtfertigt sei, wenn man zu sagen vermag: "ich habe ja
nur mein Recht ausgeübt."
4 Auf Grund des zur Note 2. Ausgeführten.
1 Die Corporationseigenschaft der älteren deutschen Stände
war ein Moment ihrer ganzen privatrechtlichen Stellung. Heut-
zutage könnte sie höchstens in der Bedeutung eines zufälligen

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verfassungsmässigen Gränzen der beiden Organe durch
rechtliche Entscheidung gelöst werden, so hat es als ein
Satz des deutschen Staatsrechts zu gelten, 4 dass im
wirklichen Zweifelsfalle die Vermuthung für das Recht
des Monarchen ist.

3. Die äussere Gestaltung der Ständeversammlung.
§. 41.

Die Landstände handeln nicht als Einzelne, sondern
als Gesammtheit in der Gestalt öffentlicher Collegien,
welche sich bei jedem Landtage von Neuem constituiren;
Corporationen sind sie jetzt nicht mehr. 1 In den meisten

so wird auch hier die gegenseitige Abgränzung nicht mit scrupu-
löser Aengstlichkeit gezogen; die Folge davon ist, dass man oft auf
ein non liquet stösst, dessen Erledigung von der vertrauensvollen
Gesinnung erwartet wird, welche man bei beiden Theilen voraus-
setzte. Aber auch darin ist eine Analogie des Verhältnisses der
beiden Staatsorgane zu den übrigen organischen Rechtsverhält-
nissen nicht zu verkennen, dass gemeinschaftlich für sie die
Voraussetzung besteht, die Ausübung der wirklich zustehenden
Rechte werde nur nach Massgabe sittlicher Selbstbeschränkung
erfolgen. Ein Ehegatte kann sich mit den sittlichen Grundlagen
der Ehe im schroffsten Widerspruche befinden, und doch kann
man ihm nicht nachweisen, dass seine Handlungen andere als
rechtmässige seien; „er gebraucht nur sein Recht!“ So kann eine
Regierung durch rücksichtslose Ausübung ihrer Rechte die Volks-
vertretung nahezu illusorisch machen, wie nicht minder eine rück-
sichtslose Volksvertretung die Regierung lahm legen und willenlos
zu machen vermag. Und beide gebrauchen „nur ihr Recht.“ Es
ist ein weit verbreiteter thörichter Irrthum, zu glauben, dass man
stets gerechtfertigt sei, wenn man zu sagen vermag: „ich habe ja
nur mein Recht ausgeübt.“
4 Auf Grund des zur Note 2. Ausgeführten.
1 Die Corporationseigenschaft der älteren deutschen Stände
war ein Moment ihrer ganzen privatrechtlichen Stellung. Heut-
zutage könnte sie höchstens in der Bedeutung eines zufälligen
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[126/0144] Zweiter Abschnitt. verfassungsmässigen Gränzen der beiden Organe durch rechtliche Entscheidung gelöst werden, so hat es als ein Satz des deutschen Staatsrechts zu gelten, 4 dass im wirklichen Zweifelsfalle die Vermuthung für das Recht des Monarchen ist. 3. Die äussere Gestaltung der Ständeversammlung. §. 41. Die Landstände handeln nicht als Einzelne, sondern als Gesammtheit in der Gestalt öffentlicher Collegien, welche sich bei jedem Landtage von Neuem constituiren; Corporationen sind sie jetzt nicht mehr. 1 In den meisten 3 4 Auf Grund des zur Note 2. Ausgeführten. 1 Die Corporationseigenschaft der älteren deutschen Stände war ein Moment ihrer ganzen privatrechtlichen Stellung. Heut- zutage könnte sie höchstens in der Bedeutung eines zufälligen 3 so wird auch hier die gegenseitige Abgränzung nicht mit scrupu- löser Aengstlichkeit gezogen; die Folge davon ist, dass man oft auf ein non liquet stösst, dessen Erledigung von der vertrauensvollen Gesinnung erwartet wird, welche man bei beiden Theilen voraus- setzte. Aber auch darin ist eine Analogie des Verhältnisses der beiden Staatsorgane zu den übrigen organischen Rechtsverhält- nissen nicht zu verkennen, dass gemeinschaftlich für sie die Voraussetzung besteht, die Ausübung der wirklich zustehenden Rechte werde nur nach Massgabe sittlicher Selbstbeschränkung erfolgen. Ein Ehegatte kann sich mit den sittlichen Grundlagen der Ehe im schroffsten Widerspruche befinden, und doch kann man ihm nicht nachweisen, dass seine Handlungen andere als rechtmässige seien; „er gebraucht nur sein Recht!“ So kann eine Regierung durch rücksichtslose Ausübung ihrer Rechte die Volks- vertretung nahezu illusorisch machen, wie nicht minder eine rück- sichtslose Volksvertretung die Regierung lahm legen und willenlos zu machen vermag. Und beide gebrauchen „nur ihr Recht.“ Es ist ein weit verbreiteter thörichter Irrthum, zu glauben, dass man stets gerechtfertigt sei, wenn man zu sagen vermag: „ich habe ja nur mein Recht ausgeübt.“

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Zitationshilfe: Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerber_staatsrecht_1865/144>, abgerufen am 28.03.2024.