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Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.

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Hawaii, dem Markesasarchipel, auf Tonga, bei der alten Bevölkerung der Marianen (während sonst Mikronesien in der Praxis wenigstens die Gegensätze minder scharf fasst) gilt das Volk als unbeseelt, daher sein Leben als vollkommen werthlos. Man tödtete es nach Gelüsten oder Laune (Mariner 1, 60. 91), man bedrückte es, da es weiter keine Geltung hat, als eben nur für die Vornehmen da zu sein, keinen Werth weiter als was es den Vornehmen werth ist -- und nirgends war dieser Druck schlimmer als auf Hawaii -- man hat ihm aus demselben Grund alle harte Arbeit, z. B. den Landbau, aufgeladen; dabei ist ihm das meiste der besseren Nahrungsmittel verboten; zu den Festen der Vornehmen muss es, was es besitzt an Lebensmitteln, beisteuern, zu den Menschenopfern nimmt man die Individuen aus ihm, kurz, es liegt ein Druck auf ihm, so unglaublich, dass man gar nicht begreift, wie unter demselben überhaupt sich eine und noch dazu zahlreiche Bevölkerung erhalten konnte. Oft fand es nicht Zeit zur Bestellung des eigenen Landes, daher denn Hungersnoth, Kindermord und namentlich eine grosse Menge von Auswanderungen eintraten, die vor allem Tahiti entvölkerten, aber auch von anderen Inseln erzählt werden. So gab es auf Tahiti im wilden, gebirgigen und kaum bewohnbaren Inneren der Insel eine zerstreute Bevölkerung "wilder Männer", die, ausserordentlich scheu und ängstlich, ganz einsam in den Klüften leben, gewiss nur entsprungene Flüchtlinge aus dem Volke, oder deren Abkömmlinge, welche nicht zurückzukehren wagten (Ellis 1, 305). Von Hawaii sagt Jarves (368 ff.): "Der Ackerbau ward vernachlässigt, und Hungersnoth herrschte. Ganze Schaaren gingen unter ihrer Last zu Grunde; andere verliessen ihre Heimath und flohen gleich wilden Thieren in die Tiefe der Wälder, wo sie aufs elendeste aus Mangel umkamen, oder eine klägliche Existenz durch Früchte und Wurzeln fristeten. Blind für diese Folgen setzten die Fürsten ihre Politik (zu der sie von geldgierigen Fremden vielfach verleitet wurden) fort." Kindermord war die Folge namentlich einer unerschwinglichen Kopfsteuer und nicht nur physisch, auch moralisch verkam das Volk. Und auf dies moralische Verkommen ist sehr zu achten; denn nichts befördert den Untergang einer Bevölkerung mehr als dies. Wo die Moralität (natürlich hier nur nach den Begriffen der betreffenden Völker) fehlt, fehlt auch die Selbstachtung; wo die Selbstachtung, die Freude am Leben, welche diesen Menschen auch schon aus äusseren Gründen unmöglich war; und wo die Freude am Leben fehlt, da verkommt und versiegt das Leben selbst. Mit Recht stellt daher Jarves (a.a.O.) diesen Druck, unter dem das Volk erlag, für eine Hauptursache seines massenhaften Schwindens hin: und wie es in Hawaii war, so war es, mit wenig Abänderungen, so ziemlich überall in Polynesien.

Hawaii, dem Markesasarchipel, auf Tonga, bei der alten Bevölkerung der Marianen (während sonst Mikronesien in der Praxis wenigstens die Gegensätze minder scharf fasst) gilt das Volk als unbeseelt, daher sein Leben als vollkommen werthlos. Man tödtete es nach Gelüsten oder Laune (Mariner 1, 60. 91), man bedrückte es, da es weiter keine Geltung hat, als eben nur für die Vornehmen da zu sein, keinen Werth weiter als was es den Vornehmen werth ist — und nirgends war dieser Druck schlimmer als auf Hawaii — man hat ihm aus demselben Grund alle harte Arbeit, z. B. den Landbau, aufgeladen; dabei ist ihm das meiste der besseren Nahrungsmittel verboten; zu den Festen der Vornehmen muss es, was es besitzt an Lebensmitteln, beisteuern, zu den Menschenopfern nimmt man die Individuen aus ihm, kurz, es liegt ein Druck auf ihm, so unglaublich, dass man gar nicht begreift, wie unter demselben überhaupt sich eine und noch dazu zahlreiche Bevölkerung erhalten konnte. Oft fand es nicht Zeit zur Bestellung des eigenen Landes, daher denn Hungersnoth, Kindermord und namentlich eine grosse Menge von Auswanderungen eintraten, die vor allem Tahiti entvölkerten, aber auch von anderen Inseln erzählt werden. So gab es auf Tahiti im wilden, gebirgigen und kaum bewohnbaren Inneren der Insel eine zerstreute Bevölkerung »wilder Männer«, die, ausserordentlich scheu und ängstlich, ganz einsam in den Klüften leben, gewiss nur entsprungene Flüchtlinge aus dem Volke, oder deren Abkömmlinge, welche nicht zurückzukehren wagten (Ellis 1, 305). Von Hawaii sagt Jarves (368 ff.): »Der Ackerbau ward vernachlässigt, und Hungersnoth herrschte. Ganze Schaaren gingen unter ihrer Last zu Grunde; andere verliessen ihre Heimath und flohen gleich wilden Thieren in die Tiefe der Wälder, wo sie aufs elendeste aus Mangel umkamen, oder eine klägliche Existenz durch Früchte und Wurzeln fristeten. Blind für diese Folgen setzten die Fürsten ihre Politik (zu der sie von geldgierigen Fremden vielfach verleitet wurden) fort.« Kindermord war die Folge namentlich einer unerschwinglichen Kopfsteuer und nicht nur physisch, auch moralisch verkam das Volk. Und auf dies moralische Verkommen ist sehr zu achten; denn nichts befördert den Untergang einer Bevölkerung mehr als dies. Wo die Moralität (natürlich hier nur nach den Begriffen der betreffenden Völker) fehlt, fehlt auch die Selbstachtung; wo die Selbstachtung, die Freude am Leben, welche diesen Menschen auch schon aus äusseren Gründen unmöglich war; und wo die Freude am Leben fehlt, da verkommt und versiegt das Leben selbst. Mit Recht stellt daher Jarves (a.a.O.) diesen Druck, unter dem das Volk erlag, für eine Hauptursache seines massenhaften Schwindens hin: und wie es in Hawaii war, so war es, mit wenig Abänderungen, so ziemlich überall in Polynesien.

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 werthlos. Man tödtete es nach Gelüsten oder Laune
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 Lebensmitteln, beisteuern, zu den Menschenopfern nimmt man die
 Individuen aus ihm, kurz, es liegt ein Druck auf ihm, so
 unglaublich, dass man gar nicht begreift, wie unter demselben
 überhaupt sich eine und noch dazu zahlreiche Bevölkerung
 erhalten konnte. Oft fand es nicht Zeit zur Bestellung des eigenen
 Landes, daher denn Hungersnoth, Kindermord und namentlich eine
 grosse Menge von Auswanderungen eintraten, die vor allem Tahiti
 entvölkerten, aber auch von anderen Inseln erzählt
 werden. So gab es auf Tahiti im wilden, gebirgigen und kaum
 bewohnbaren Inneren der Insel eine zerstreute Bevölkerung
 »wilder Männer«, die, ausserordentlich scheu und
 ängstlich, ganz einsam in den Klüften leben, gewiss nur
 entsprungene Flüchtlinge aus dem Volke, oder deren
 Abkömmlinge, welche nicht zurückzukehren wagten (Ellis 1,
 305). Von Hawaii sagt Jarves (368 ff.): »Der Ackerbau ward
 vernachlässigt, und Hungersnoth herrschte. Ganze Schaaren
 gingen unter ihrer Last zu Grunde; andere verliessen ihre Heimath
 und flohen gleich wilden Thieren in die Tiefe der Wälder, wo
 sie aufs elendeste aus Mangel umkamen, oder eine klägliche
 Existenz durch Früchte und Wurzeln fristeten. Blind für
 diese Folgen setzten die Fürsten ihre Politik (zu der sie von
 geldgierigen Fremden vielfach verleitet wurden) fort.«
 Kindermord war die Folge namentlich einer unerschwinglichen
 Kopfsteuer und nicht nur physisch, auch moralisch verkam das Volk.
 Und auf dies moralische Verkommen ist sehr zu achten; denn nichts
 befördert den Untergang einer Bevölkerung mehr als dies.
 Wo die Moralität (natürlich hier nur nach den Begriffen
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 wo die Selbstachtung, die Freude am Leben, welche diesen Menschen
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 selbst. Mit Recht stellt daher Jarves (a.a.O.) diesen Druck, unter
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[0093] Hawaii, dem Markesasarchipel, auf Tonga, bei der alten Bevölkerung der Marianen (während sonst Mikronesien in der Praxis wenigstens die Gegensätze minder scharf fasst) gilt das Volk als unbeseelt, daher sein Leben als vollkommen werthlos. Man tödtete es nach Gelüsten oder Laune (Mariner 1, 60. 91), man bedrückte es, da es weiter keine Geltung hat, als eben nur für die Vornehmen da zu sein, keinen Werth weiter als was es den Vornehmen werth ist — und nirgends war dieser Druck schlimmer als auf Hawaii — man hat ihm aus demselben Grund alle harte Arbeit, z. B. den Landbau, aufgeladen; dabei ist ihm das meiste der besseren Nahrungsmittel verboten; zu den Festen der Vornehmen muss es, was es besitzt an Lebensmitteln, beisteuern, zu den Menschenopfern nimmt man die Individuen aus ihm, kurz, es liegt ein Druck auf ihm, so unglaublich, dass man gar nicht begreift, wie unter demselben überhaupt sich eine und noch dazu zahlreiche Bevölkerung erhalten konnte. Oft fand es nicht Zeit zur Bestellung des eigenen Landes, daher denn Hungersnoth, Kindermord und namentlich eine grosse Menge von Auswanderungen eintraten, die vor allem Tahiti entvölkerten, aber auch von anderen Inseln erzählt werden. So gab es auf Tahiti im wilden, gebirgigen und kaum bewohnbaren Inneren der Insel eine zerstreute Bevölkerung »wilder Männer«, die, ausserordentlich scheu und ängstlich, ganz einsam in den Klüften leben, gewiss nur entsprungene Flüchtlinge aus dem Volke, oder deren Abkömmlinge, welche nicht zurückzukehren wagten (Ellis 1, 305). Von Hawaii sagt Jarves (368 ff.): »Der Ackerbau ward vernachlässigt, und Hungersnoth herrschte. Ganze Schaaren gingen unter ihrer Last zu Grunde; andere verliessen ihre Heimath und flohen gleich wilden Thieren in die Tiefe der Wälder, wo sie aufs elendeste aus Mangel umkamen, oder eine klägliche Existenz durch Früchte und Wurzeln fristeten. Blind für diese Folgen setzten die Fürsten ihre Politik (zu der sie von geldgierigen Fremden vielfach verleitet wurden) fort.« Kindermord war die Folge namentlich einer unerschwinglichen Kopfsteuer und nicht nur physisch, auch moralisch verkam das Volk. Und auf dies moralische Verkommen ist sehr zu achten; denn nichts befördert den Untergang einer Bevölkerung mehr als dies. Wo die Moralität (natürlich hier nur nach den Begriffen der betreffenden Völker) fehlt, fehlt auch die Selbstachtung; wo die Selbstachtung, die Freude am Leben, welche diesen Menschen auch schon aus äusseren Gründen unmöglich war; und wo die Freude am Leben fehlt, da verkommt und versiegt das Leben selbst. Mit Recht stellt daher Jarves (a.a.O.) diesen Druck, unter dem das Volk erlag, für eine Hauptursache seines massenhaften Schwindens hin: und wie es in Hawaii war, so war es, mit wenig Abänderungen, so ziemlich überall in Polynesien.

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Zitationshilfe: Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/93>, abgerufen am 19.04.2024.