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Gessert, Ferdinand: Ueber den Begriff und die Wichtigkeit der Schulzucht besonders für die Volksschulen. Münster, 1826.

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Denn ein sinnlicher Mensch überhaupt kann, ob er
schon das Gesetz kennt und will, nicht weiter es

sie nicht allmählig oder plötzlich wieder ab? Oder läßt uns nicht
abermals die Erfahrung an manchem Menschen nichts mehr be-
dauern, als daß er in der Jugend nicht unter der Zucht gehalten
ist? Und ist diese Erfahrung wieder wahr, so muß ja Verstand und
Wille, der recht ist, in dem Kinde nur sein als Fähigkeit, über die
etwas anderes herrscht, welches wir im Gegensatz gegen jene gei-
stigen Güter (und nur so) die Sinnlichkeit genannt haben.
Doch sie berufen sich auf ein Wort aus dem Munde des, der
nicht trügen kann. Christus selbst sagt: Lasset die Kindlein zu mir
kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes
u. s. w. Da erklärt ja, sagen sie, der Heiland den Zustand der
Kinder für einen guten. Gewiß; aber liegt denn in diesem Spruch
das eigentlich, was sie behaupten? Muß derselbe, eben weil er
aus dem Munde der Wahrheit kommt, nicht auch mit jenem an-
dern völlig stimmen: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren
werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen; und wiederum: Was
vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, was aber aus dem Geist
geboren wird, das ist Geist? Und hat nicht in diese Sprüche
Christus auch die Kinder mitbegriffen als dessen bedürftig, was
er allein allen Menschen gibt? Er sagt ja aber auch nicht in
jenem Spruche, daß die Kinder nach ihrem Zustande das Reich
Gottes schon haben. Er befiehlt vielmehr, daß man sie eben deß-
halb lasse zu ihm kommen, weil das Reich Gottes ihr sei und an
ihnen solle offenbaret werden. Er verbietet zugleich ihnen ja nicht
zu wehren, daß sie zu ihm kommen, weil das heiße ihnen das
Reich Gottes verwehren. Jch meine doch, er verlange so recht
sehr, daß wir uns der Kinder ernstlich annehmen sie zu bringen
in das himmlische Wesen, darein er uns versetzt hat, und sie ja
nicht zu lassen in dem Zustand, den sie von Natur schon haben.
Oder wäre es nicht so; wie hat doch die Christenheit in diesem
Stücke dem Willen des Heilandes so entgegen handeln können,
daß sie auch die Jugend anhält zu christlicher Zucht und Fröm-
migkeit? Sie müßte ja vielmehr alle Erziehung, auch alle Unter-
weisung für Verderben der Jugend erklärt und sich derselben ent-
halten haben als einer offenbaren Uebertretung des Willens ihres
Herrn. Durch welche Mittel hätten wir aber dann das Reich
Gottes bekommen? -- Oder haben wir es nicht?

Denn ein ſinnlicher Menſch uͤberhaupt kann, ob er
ſchon das Geſetz kennt und will, nicht weiter es

ſie nicht allmaͤhlig oder ploͤtzlich wieder ab? Oder laͤßt uns nicht
abermals die Erfahrung an manchem Menſchen nichts mehr be-
dauern, als daß er in der Jugend nicht unter der Zucht gehalten
iſt? Und iſt dieſe Erfahrung wieder wahr, ſo muß ja Verſtand und
Wille, der recht iſt, in dem Kinde nur ſein als Faͤhigkeit, uͤber die
etwas anderes herrſcht, welches wir im Gegenſatz gegen jene gei-
ſtigen Guͤter (und nur ſo) die Sinnlichkeit genannt haben.
Doch ſie berufen ſich auf ein Wort aus dem Munde des, der
nicht truͤgen kann. Chriſtus ſelbſt ſagt: Laſſet die Kindlein zu mir
kommen und wehret ihnen nicht, denn ſolcher iſt das Reich Gottes
u. ſ. w. Da erklaͤrt ja, ſagen ſie, der Heiland den Zuſtand der
Kinder fuͤr einen guten. Gewiß; aber liegt denn in dieſem Spruch
das eigentlich, was ſie behaupten? Muß derſelbe, eben weil er
aus dem Munde der Wahrheit kommt, nicht auch mit jenem an-
dern voͤllig ſtimmen: Es ſei denn, daß jemand von neuem geboren
werde, kann er das Reich Gottes nicht ſehen; und wiederum: Was
vom Fleiſch geboren wird, das iſt Fleiſch, was aber aus dem Geiſt
geboren wird, das iſt Geiſt? Und hat nicht in dieſe Spruͤche
Chriſtus auch die Kinder mitbegriffen als deſſen beduͤrftig, was
er allein allen Menſchen gibt? Er ſagt ja aber auch nicht in
jenem Spruche, daß die Kinder nach ihrem Zuſtande das Reich
Gottes ſchon haben. Er befiehlt vielmehr, daß man ſie eben deß-
halb laſſe zu ihm kommen, weil das Reich Gottes ihr ſei und an
ihnen ſolle offenbaret werden. Er verbietet zugleich ihnen ja nicht
zu wehren, daß ſie zu ihm kommen, weil das heiße ihnen das
Reich Gottes verwehren. Jch meine doch, er verlange ſo recht
ſehr, daß wir uns der Kinder ernſtlich annehmen ſie zu bringen
in das himmliſche Weſen, darein er uns verſetzt hat, und ſie ja
nicht zu laſſen in dem Zuſtand, den ſie von Natur ſchon haben.
Oder waͤre es nicht ſo; wie hat doch die Chriſtenheit in dieſem
Stuͤcke dem Willen des Heilandes ſo entgegen handeln koͤnnen,
daß ſie auch die Jugend anhaͤlt zu chriſtlicher Zucht und Froͤm-
migkeit? Sie muͤßte ja vielmehr alle Erziehung, auch alle Unter-
weiſung fuͤr Verderben der Jugend erklaͤrt und ſich derſelben ent-
halten haben als einer offenbaren Uebertretung des Willens ihres
Herrn. Durch welche Mittel haͤtten wir aber dann das Reich
Gottes bekommen? — Oder haben wir es nicht?
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[32/0040] Denn ein ſinnlicher Menſch uͤberhaupt kann, ob er ſchon das Geſetz kennt und will, nicht weiter es *) *) ſie nicht allmaͤhlig oder ploͤtzlich wieder ab? Oder laͤßt uns nicht abermals die Erfahrung an manchem Menſchen nichts mehr be- dauern, als daß er in der Jugend nicht unter der Zucht gehalten iſt? Und iſt dieſe Erfahrung wieder wahr, ſo muß ja Verſtand und Wille, der recht iſt, in dem Kinde nur ſein als Faͤhigkeit, uͤber die etwas anderes herrſcht, welches wir im Gegenſatz gegen jene gei- ſtigen Guͤter (und nur ſo) die Sinnlichkeit genannt haben. Doch ſie berufen ſich auf ein Wort aus dem Munde des, der nicht truͤgen kann. Chriſtus ſelbſt ſagt: Laſſet die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ſolcher iſt das Reich Gottes u. ſ. w. Da erklaͤrt ja, ſagen ſie, der Heiland den Zuſtand der Kinder fuͤr einen guten. Gewiß; aber liegt denn in dieſem Spruch das eigentlich, was ſie behaupten? Muß derſelbe, eben weil er aus dem Munde der Wahrheit kommt, nicht auch mit jenem an- dern voͤllig ſtimmen: Es ſei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht ſehen; und wiederum: Was vom Fleiſch geboren wird, das iſt Fleiſch, was aber aus dem Geiſt geboren wird, das iſt Geiſt? Und hat nicht in dieſe Spruͤche Chriſtus auch die Kinder mitbegriffen als deſſen beduͤrftig, was er allein allen Menſchen gibt? Er ſagt ja aber auch nicht in jenem Spruche, daß die Kinder nach ihrem Zuſtande das Reich Gottes ſchon haben. Er befiehlt vielmehr, daß man ſie eben deß- halb laſſe zu ihm kommen, weil das Reich Gottes ihr ſei und an ihnen ſolle offenbaret werden. Er verbietet zugleich ihnen ja nicht zu wehren, daß ſie zu ihm kommen, weil das heiße ihnen das Reich Gottes verwehren. Jch meine doch, er verlange ſo recht ſehr, daß wir uns der Kinder ernſtlich annehmen ſie zu bringen in das himmliſche Weſen, darein er uns verſetzt hat, und ſie ja nicht zu laſſen in dem Zuſtand, den ſie von Natur ſchon haben. Oder waͤre es nicht ſo; wie hat doch die Chriſtenheit in dieſem Stuͤcke dem Willen des Heilandes ſo entgegen handeln koͤnnen, daß ſie auch die Jugend anhaͤlt zu chriſtlicher Zucht und Froͤm- migkeit? Sie muͤßte ja vielmehr alle Erziehung, auch alle Unter- weiſung fuͤr Verderben der Jugend erklaͤrt und ſich derſelben ent- halten haben als einer offenbaren Uebertretung des Willens ihres Herrn. Durch welche Mittel haͤtten wir aber dann das Reich Gottes bekommen? — Oder haben wir es nicht?

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Zitationshilfe: Gessert, Ferdinand: Ueber den Begriff und die Wichtigkeit der Schulzucht besonders für die Volksschulen. Münster, 1826, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gessert_schulzucht_1826/40>, abgerufen am 29.03.2024.