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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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Ueberlieferungen.

Wenn der Mensch daran denken soll
von Ereignissen, die ihn zunächst betreffen,
künftigen Geschlechtern Nachricht zu hin-
terlassen, so gehört dazu ein gewisses Be-
hagen an der Gegenwart, ein Gefühl von
dem hohen Werthe derselben. Zuerst also
befestigt er im Gedächtniss was er von
Vätern vernommen und überliefert solches
in fabelhaften Umhüllungen; denn mündli-
che Ueberlieferung wird immer mährchen-
haft wachsen. Ist aber die Schrift erfunden,
ergreift die Schreibseligkeit ein Volk vor dem
andern, so entstehen alsdann Chroniken,
welche den poetischen Rhythmus behalten,
wenn die Poesie der Einbildungskraft und
des Gefühls längst verschwunden ist. Die
späteste Zeit versorgt uns mit ausführlichen
Denkschriften, Selbstbiographien unter
mancherley Gestalten.

Ueberlieferungen.

Wenn der Mensch daran denken soll
von Ereignissen, die ihn zunächst betreffen,
künftigen Geschlechtern Nachricht zu hin-
terlassen, so gehört dazu ein gewisses Be-
hagen an der Gegenwart, ein Gefühl von
dem hohen Werthe derselben. Zuerst also
befestigt er im Gedächtniſs was er von
Vätern vernommen und überliefert solches
in fabelhaften Umhüllungen; denn mündli-
che Ueberlieferung wird immer mährchen-
haft wachsen. Ist aber die Schrift erfunden,
ergreift die Schreibseligkeit ein Volk vor dem
andern, so entstehen alsdann Chroniken,
welche den poetischen Rhythmus behalten,
wenn die Poesie der Einbildungskraft und
des Gefühls längst verschwunden ist. Die
späteste Zeit versorgt uns mit ausführlichen
Denkschriften, Selbstbiographien unter
mancherley Gestalten.

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[300/0310] Ueberlieferungen. Wenn der Mensch daran denken soll von Ereignissen, die ihn zunächst betreffen, künftigen Geschlechtern Nachricht zu hin- terlassen, so gehört dazu ein gewisses Be- hagen an der Gegenwart, ein Gefühl von dem hohen Werthe derselben. Zuerst also befestigt er im Gedächtniſs was er von Vätern vernommen und überliefert solches in fabelhaften Umhüllungen; denn mündli- che Ueberlieferung wird immer mährchen- haft wachsen. Ist aber die Schrift erfunden, ergreift die Schreibseligkeit ein Volk vor dem andern, so entstehen alsdann Chroniken, welche den poetischen Rhythmus behalten, wenn die Poesie der Einbildungskraft und des Gefühls längst verschwunden ist. Die späteste Zeit versorgt uns mit ausführlichen Denkschriften, Selbstbiographien unter mancherley Gestalten.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/310>, abgerufen am 18.04.2024.