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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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128.

Viele Kranke, wenn sie erwachen, sehen alles in der
Farbe des Morgenroths, wie durch einen rothen Flor;
auch wenn sie am Abend lesen, und zwischendurch ein-
nicken und wieder aufwachen, pflegt es zu geschehen.
Dieses bleibt minutenlang und vergeht allenfalls, wenn
das Auge etwas gerieben wird. Dabey sind zuweilen
rothe Sterne und Kugeln. Dieses Rothsehen dauert
auch wohl eine lange Zeit.

129.

Die Luftfahrer, besonders Zambeccari und seine
Gefährten, wollen in ihrer höchsten Erhebung den
Mond blutroth gesehen haben. Da sie sich über die
irdischen Dünste emporgeschwungen hatten, durch wel-
che wir den Mond und die Sonne wohl in einer sol-
chen Farbe sehen; so läßt sich vermuthen, daß diese
Erscheinung zu den pathologischen Farben gehöre. Es
mögen nehmlich die Sinne durch den ungewohnten Zu-
stand dergestalt afficirt seyn, daß der ganze Körper und
besonders auch die Retina in eine Art von Unrührbar-
keit und Unreizbarkeit verfällt. Es ist daher nicht un-
möglich, daß der Mond als ein höchst abgestumpftes
Licht wirke, und also das Gefühl der rothen Farbe
hervorbringe. Den Hamburger Luftfahrern erschien auch
die Sonne blutroth.

Wenn die Luftfahrenden zusammen sprechen und
sich kaum hören, sollte nicht auch dieses der Unreizbar-
keit der Nerven eben so gut als der Dünne der Luft
zugeschrieben werden können?

I. 4
128.

Viele Kranke, wenn ſie erwachen, ſehen alles in der
Farbe des Morgenroths, wie durch einen rothen Flor;
auch wenn ſie am Abend leſen, und zwiſchendurch ein-
nicken und wieder aufwachen, pflegt es zu geſchehen.
Dieſes bleibt minutenlang und vergeht allenfalls, wenn
das Auge etwas gerieben wird. Dabey ſind zuweilen
rothe Sterne und Kugeln. Dieſes Rothſehen dauert
auch wohl eine lange Zeit.

129.

Die Luftfahrer, beſonders Zambeccari und ſeine
Gefaͤhrten, wollen in ihrer hoͤchſten Erhebung den
Mond blutroth geſehen haben. Da ſie ſich uͤber die
irdiſchen Duͤnſte emporgeſchwungen hatten, durch wel-
che wir den Mond und die Sonne wohl in einer ſol-
chen Farbe ſehen; ſo laͤßt ſich vermuthen, daß dieſe
Erſcheinung zu den pathologiſchen Farben gehoͤre. Es
moͤgen nehmlich die Sinne durch den ungewohnten Zu-
ſtand dergeſtalt afficirt ſeyn, daß der ganze Koͤrper und
beſonders auch die Retina in eine Art von Unruͤhrbar-
keit und Unreizbarkeit verfaͤllt. Es iſt daher nicht un-
moͤglich, daß der Mond als ein hoͤchſt abgeſtumpftes
Licht wirke, und alſo das Gefuͤhl der rothen Farbe
hervorbringe. Den Hamburger Luftfahrern erſchien auch
die Sonne blutroth.

Wenn die Luftfahrenden zuſammen ſprechen und
ſich kaum hoͤren, ſollte nicht auch dieſes der Unreizbar-
keit der Nerven eben ſo gut als der Duͤnne der Luft
zugeſchrieben werden koͤnnen?

I. 4
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[49/0103] 128. Viele Kranke, wenn ſie erwachen, ſehen alles in der Farbe des Morgenroths, wie durch einen rothen Flor; auch wenn ſie am Abend leſen, und zwiſchendurch ein- nicken und wieder aufwachen, pflegt es zu geſchehen. Dieſes bleibt minutenlang und vergeht allenfalls, wenn das Auge etwas gerieben wird. Dabey ſind zuweilen rothe Sterne und Kugeln. Dieſes Rothſehen dauert auch wohl eine lange Zeit. 129. Die Luftfahrer, beſonders Zambeccari und ſeine Gefaͤhrten, wollen in ihrer hoͤchſten Erhebung den Mond blutroth geſehen haben. Da ſie ſich uͤber die irdiſchen Duͤnſte emporgeſchwungen hatten, durch wel- che wir den Mond und die Sonne wohl in einer ſol- chen Farbe ſehen; ſo laͤßt ſich vermuthen, daß dieſe Erſcheinung zu den pathologiſchen Farben gehoͤre. Es moͤgen nehmlich die Sinne durch den ungewohnten Zu- ſtand dergeſtalt afficirt ſeyn, daß der ganze Koͤrper und beſonders auch die Retina in eine Art von Unruͤhrbar- keit und Unreizbarkeit verfaͤllt. Es iſt daher nicht un- moͤglich, daß der Mond als ein hoͤchſt abgeſtumpftes Licht wirke, und alſo das Gefuͤhl der rothen Farbe hervorbringe. Den Hamburger Luftfahrern erſchien auch die Sonne blutroth. Wenn die Luftfahrenden zuſammen ſprechen und ſich kaum hoͤren, ſollte nicht auch dieſes der Unreizbar- keit der Nerven eben ſo gut als der Duͤnne der Luft zugeſchrieben werden koͤnnen? I. 4

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/103>, abgerufen am 29.03.2024.