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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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den Widerschein geschieht. Es ist dieses zwar sehr be-
kannte, doch immer ahndungsvolle Phänomen dem
Physiker wie dem Maler von der größten Bedeutung.

590.

Man nehme eine jede specificirte farbige Fläche,
man stelle sie in die Sonne und lasse den Widerschein
auf andre farblose Gegenstände fallen. Dieser Wider-
schein ist eine Art gemäßigten Lichts, ein Halblicht, ein
Halbschatten, der außer seiner gedämpften Natur die
specifische Farbe der Fläche mit abspiegelt.

591.

Wirkt dieser Widerschein auf lichte Flächen, so
wird er aufgehoben, und man bemerkt die Farbe
wenig, die er mit sich bringt. Wirkt er aber auf
Schattenstellen, so zeigt sich eine gleichsam magische
Verbindung mit dem skiero. Der Schatten ist das ei-
gentliche Element der Farbe, und hier tritt zu demsel-
ben eine schattige Farbe beleuchtend, färbend und be-
lebend. Und so entsteht eine eben so mächtige als an-
genehme Erscheinung, welche dem Maler, der sie
zu benutzen weiß, die herrlichsten Dienste leistet. Hier
sind die Vorbilder der sogenannten Reflexe, die in
der Geschichte der Kunst erst später bemerkt werden,
und die man seltner als billig in ihrer ganzen Man-
nigfaltigkeit anzuwenden gewußt hat.

592.

Die Scholastiker nannten diese Farben colores
notionales
und intentionales; wie uns denn über-
haupt die Geschichte zeigen wird, daß jene Schule

den Widerſchein geſchieht. Es iſt dieſes zwar ſehr be-
kannte, doch immer ahndungsvolle Phaͤnomen dem
Phyſiker wie dem Maler von der groͤßten Bedeutung.

590.

Man nehme eine jede ſpecificirte farbige Flaͤche,
man ſtelle ſie in die Sonne und laſſe den Widerſchein
auf andre farbloſe Gegenſtaͤnde fallen. Dieſer Wider-
ſchein iſt eine Art gemaͤßigten Lichts, ein Halblicht, ein
Halbſchatten, der außer ſeiner gedaͤmpften Natur die
ſpecifiſche Farbe der Flaͤche mit abſpiegelt.

591.

Wirkt dieſer Widerſchein auf lichte Flaͤchen, ſo
wird er aufgehoben, und man bemerkt die Farbe
wenig, die er mit ſich bringt. Wirkt er aber auf
Schattenſtellen, ſo zeigt ſich eine gleichſam magiſche
Verbindung mit dem σκιερῷ. Der Schatten iſt das ei-
gentliche Element der Farbe, und hier tritt zu demſel-
ben eine ſchattige Farbe beleuchtend, faͤrbend und be-
lebend. Und ſo entſteht eine eben ſo maͤchtige als an-
genehme Erſcheinung, welche dem Maler, der ſie
zu benutzen weiß, die herrlichſten Dienſte leiſtet. Hier
ſind die Vorbilder der ſogenannten Reflexe, die in
der Geſchichte der Kunſt erſt ſpaͤter bemerkt werden,
und die man ſeltner als billig in ihrer ganzen Man-
nigfaltigkeit anzuwenden gewußt hat.

592.

Die Scholaſtiker nannten dieſe Farben colores
notionales
und intentionales; wie uns denn uͤber-
haupt die Geſchichte zeigen wird, daß jene Schule

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[219/0273] den Widerſchein geſchieht. Es iſt dieſes zwar ſehr be- kannte, doch immer ahndungsvolle Phaͤnomen dem Phyſiker wie dem Maler von der groͤßten Bedeutung. 590. Man nehme eine jede ſpecificirte farbige Flaͤche, man ſtelle ſie in die Sonne und laſſe den Widerſchein auf andre farbloſe Gegenſtaͤnde fallen. Dieſer Wider- ſchein iſt eine Art gemaͤßigten Lichts, ein Halblicht, ein Halbſchatten, der außer ſeiner gedaͤmpften Natur die ſpecifiſche Farbe der Flaͤche mit abſpiegelt. 591. Wirkt dieſer Widerſchein auf lichte Flaͤchen, ſo wird er aufgehoben, und man bemerkt die Farbe wenig, die er mit ſich bringt. Wirkt er aber auf Schattenſtellen, ſo zeigt ſich eine gleichſam magiſche Verbindung mit dem σκιερῷ. Der Schatten iſt das ei- gentliche Element der Farbe, und hier tritt zu demſel- ben eine ſchattige Farbe beleuchtend, faͤrbend und be- lebend. Und ſo entſteht eine eben ſo maͤchtige als an- genehme Erſcheinung, welche dem Maler, der ſie zu benutzen weiß, die herrlichſten Dienſte leiſtet. Hier ſind die Vorbilder der ſogenannten Reflexe, die in der Geſchichte der Kunſt erſt ſpaͤter bemerkt werden, und die man ſeltner als billig in ihrer ganzen Man- nigfaltigkeit anzuwenden gewußt hat. 592. Die Scholaſtiker nannten dieſe Farben colores notionales und intentionales; wie uns denn uͤber- haupt die Geſchichte zeigen wird, daß jene Schule

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/273>, abgerufen am 28.03.2024.