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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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731.

Merkwürdig ist es, in diesem Sinne die Anleitun-
gen zur Färbekunst zu betrachten. Wie der katholische
Christ, wenn er in seinen Tempel tritt, sich mit Weih-
wasser besprengt und vor dem Hochwürdigen die Kniee
beugt und vielleicht alsdann, ohne sonderliche Andacht,
seine Angelegenheiten mit Freunden bespricht, oder Lie-
besabenteuern nachgeht; so fangen die sämmtlichen
Färbelehren mit einer respectvollen Erwähnung der
Theorie geziemend an, ohne daß sich auch nachher
nur eine Spur fände, daß etwas aus dieser Theorie
herflösse, daß diese Theorie irgend etwas erleuchte,
erläutere und zu praktischen Handgriffen irgend einen
Vortheil gewähre.

732.

Dagegen finden sich Männer, welche den Um-
fang des praktischen Färbewesens wohl eingesehen, in
dem Falle sich mit der herkömmlichen Theorie zu ent-
zweyen, ihre Blößen mehr oder weniger zu entdecken,
und ein der Natur und Erfahrung gemäßeres Allge-
meines aufzusuchen. Wenn uns in der Geschichte die
Namen Castel und Gülich begegnen, so werden wir
hierüber weitläuftiger zu handeln Ursache haben; wo-
bey sich zugleich Gelegenheit finden wird zu zeigen, wie
eine fortgesetzte Empirie, indem sie in allem Zufälligen
umhergreift, den Kreis, in den sie gebannt ist, wirk-
lich ausläuft und sich als ein hohes Vollendetes dem
Theoretiker, wenn er klare Augen und ein redliches

I. 18
731.

Merkwuͤrdig iſt es, in dieſem Sinne die Anleitun-
gen zur Faͤrbekunſt zu betrachten. Wie der katholiſche
Chriſt, wenn er in ſeinen Tempel tritt, ſich mit Weih-
waſſer beſprengt und vor dem Hochwuͤrdigen die Kniee
beugt und vielleicht alsdann, ohne ſonderliche Andacht,
ſeine Angelegenheiten mit Freunden beſpricht, oder Lie-
besabenteuern nachgeht; ſo fangen die ſaͤmmtlichen
Faͤrbelehren mit einer reſpectvollen Erwaͤhnung der
Theorie geziemend an, ohne daß ſich auch nachher
nur eine Spur faͤnde, daß etwas aus dieſer Theorie
herfloͤſſe, daß dieſe Theorie irgend etwas erleuchte,
erlaͤutere und zu praktiſchen Handgriffen irgend einen
Vortheil gewaͤhre.

732.

Dagegen finden ſich Maͤnner, welche den Um-
fang des praktiſchen Faͤrbeweſens wohl eingeſehen, in
dem Falle ſich mit der herkoͤmmlichen Theorie zu ent-
zweyen, ihre Bloͤßen mehr oder weniger zu entdecken,
und ein der Natur und Erfahrung gemaͤßeres Allge-
meines aufzuſuchen. Wenn uns in der Geſchichte die
Namen Caſtel und Guͤlich begegnen, ſo werden wir
hieruͤber weitlaͤuftiger zu handeln Urſache haben; wo-
bey ſich zugleich Gelegenheit finden wird zu zeigen, wie
eine fortgeſetzte Empirie, indem ſie in allem Zufaͤlligen
umhergreift, den Kreis, in den ſie gebannt iſt, wirk-
lich auslaͤuft und ſich als ein hohes Vollendetes dem
Theoretiker, wenn er klare Augen und ein redliches

I. 18
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[273/0327] 731. Merkwuͤrdig iſt es, in dieſem Sinne die Anleitun- gen zur Faͤrbekunſt zu betrachten. Wie der katholiſche Chriſt, wenn er in ſeinen Tempel tritt, ſich mit Weih- waſſer beſprengt und vor dem Hochwuͤrdigen die Kniee beugt und vielleicht alsdann, ohne ſonderliche Andacht, ſeine Angelegenheiten mit Freunden beſpricht, oder Lie- besabenteuern nachgeht; ſo fangen die ſaͤmmtlichen Faͤrbelehren mit einer reſpectvollen Erwaͤhnung der Theorie geziemend an, ohne daß ſich auch nachher nur eine Spur faͤnde, daß etwas aus dieſer Theorie herfloͤſſe, daß dieſe Theorie irgend etwas erleuchte, erlaͤutere und zu praktiſchen Handgriffen irgend einen Vortheil gewaͤhre. 732. Dagegen finden ſich Maͤnner, welche den Um- fang des praktiſchen Faͤrbeweſens wohl eingeſehen, in dem Falle ſich mit der herkoͤmmlichen Theorie zu ent- zweyen, ihre Bloͤßen mehr oder weniger zu entdecken, und ein der Natur und Erfahrung gemaͤßeres Allge- meines aufzuſuchen. Wenn uns in der Geſchichte die Namen Caſtel und Guͤlich begegnen, ſo werden wir hieruͤber weitlaͤuftiger zu handeln Urſache haben; wo- bey ſich zugleich Gelegenheit finden wird zu zeigen, wie eine fortgeſetzte Empirie, indem ſie in allem Zufaͤlligen umhergreift, den Kreis, in den ſie gebannt iſt, wirk- lich auslaͤuft und ſich als ein hohes Vollendetes dem Theoretiker, wenn er klare Augen und ein redliches I. 18

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/327>, abgerufen am 19.04.2024.