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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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Kreises besonders hiezu gebildeter Geister verständlich.
Mechanische Formeln sprechen mehr zu dem gemeinen
Sinn, aber sie sind auch gemeiner, und behalten
immer etwas Rohes. Sie verwandlen das Lebendige
in ein Todtes; sie tödten das innre Leben, um von
außen ein unzulängliches heranzubringen. Corpuscular-
Formeln sind ihnen nahe verwandt; das Bewegliche
wird starr durch sie, Vorstellung und Ausdruck unge-
schlacht. Dagegen erscheinen die moralischen Formeln,
welche freylich zartere Verhältnisse ausdrücken, als
bloße Gleichnisse und verlieren sich denn auch wohl zu-
letzt in Spiele des Witzes.

753.

Könnte man sich jedoch aller dieser Arten der Vor-
stellung und des Ausdrucks mit Bewußtseyn bedienen,
und in einer mannigfaltigen Sprache seine Betrachtun-
gen über Naturphänomene überliefern; hielte man sich
von Einseitigkeit frey, und faßte einen lebendigen
Sinn in einen lebendigen Ausdruck, so ließe sich man-
ches Erfreuliche mittheilen.

754.

Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an
die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer le-
bendig vor sich zu haben und es nicht durch das Wort
zu tödten. Dabey sind wir in den neuern Zeiten in
eine noch größere Gefahr gerathen, indem wir aus
allem Erkenn- und Wißbaren Ausdrücke und Termino-
logien herübergenommen haben, um unsre Anschauun-

Kreiſes beſonders hiezu gebildeter Geiſter verſtaͤndlich.
Mechaniſche Formeln ſprechen mehr zu dem gemeinen
Sinn, aber ſie ſind auch gemeiner, und behalten
immer etwas Rohes. Sie verwandlen das Lebendige
in ein Todtes; ſie toͤdten das innre Leben, um von
außen ein unzulaͤngliches heranzubringen. Corpuscular-
Formeln ſind ihnen nahe verwandt; das Bewegliche
wird ſtarr durch ſie, Vorſtellung und Ausdruck unge-
ſchlacht. Dagegen erſcheinen die moraliſchen Formeln,
welche freylich zartere Verhaͤltniſſe ausdruͤcken, als
bloße Gleichniſſe und verlieren ſich denn auch wohl zu-
letzt in Spiele des Witzes.

753.

Koͤnnte man ſich jedoch aller dieſer Arten der Vor-
ſtellung und des Ausdrucks mit Bewußtſeyn bedienen,
und in einer mannigfaltigen Sprache ſeine Betrachtun-
gen uͤber Naturphaͤnomene uͤberliefern; hielte man ſich
von Einſeitigkeit frey, und faßte einen lebendigen
Sinn in einen lebendigen Ausdruck, ſo ließe ſich man-
ches Erfreuliche mittheilen.

754.

Jedoch wie ſchwer iſt es, das Zeichen nicht an
die Stelle der Sache zu ſetzen, das Weſen immer le-
bendig vor ſich zu haben und es nicht durch das Wort
zu toͤdten. Dabey ſind wir in den neuern Zeiten in
eine noch groͤßere Gefahr gerathen, indem wir aus
allem Erkenn- und Wißbaren Ausdruͤcke und Termino-
logien heruͤbergenommen haben, um unſre Anſchauun-

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[284/0338] Kreiſes beſonders hiezu gebildeter Geiſter verſtaͤndlich. Mechaniſche Formeln ſprechen mehr zu dem gemeinen Sinn, aber ſie ſind auch gemeiner, und behalten immer etwas Rohes. Sie verwandlen das Lebendige in ein Todtes; ſie toͤdten das innre Leben, um von außen ein unzulaͤngliches heranzubringen. Corpuscular- Formeln ſind ihnen nahe verwandt; das Bewegliche wird ſtarr durch ſie, Vorſtellung und Ausdruck unge- ſchlacht. Dagegen erſcheinen die moraliſchen Formeln, welche freylich zartere Verhaͤltniſſe ausdruͤcken, als bloße Gleichniſſe und verlieren ſich denn auch wohl zu- letzt in Spiele des Witzes. 753. Koͤnnte man ſich jedoch aller dieſer Arten der Vor- ſtellung und des Ausdrucks mit Bewußtſeyn bedienen, und in einer mannigfaltigen Sprache ſeine Betrachtun- gen uͤber Naturphaͤnomene uͤberliefern; hielte man ſich von Einſeitigkeit frey, und faßte einen lebendigen Sinn in einen lebendigen Ausdruck, ſo ließe ſich man- ches Erfreuliche mittheilen. 754. Jedoch wie ſchwer iſt es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu ſetzen, das Weſen immer le- bendig vor ſich zu haben und es nicht durch das Wort zu toͤdten. Dabey ſind wir in den neuern Zeiten in eine noch groͤßere Gefahr gerathen, indem wir aus allem Erkenn- und Wißbaren Ausdruͤcke und Termino- logien heruͤbergenommen haben, um unſre Anſchauun-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/338>, abgerufen am 25.04.2024.