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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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wieder der eigene Schatten des Körpers, der auf andre
Körper geworfene Schatten, der erhellte Schatten oder
Reflex.

854.

Zum natürlichsten Beyspiel für das Helldunkel wäre
die Kugel günstig, um sich einen allgemeinen Begriff
zu bilden, aber nicht hinlänglich zum ästhetischen Ge-
brauch. Die verfließende Einheit einer solchen Run-
dung führt zum Nebulistischen. Um Kunstwirkungen zu
erzwecken, müssen an ihr Flächen hervorgebracht werden,
damit die Theile der Schatten- und Lichtseite sich mehr
in sich selbst absondern.

855.

Die Italiäner nennen dieses il piazzoso; man
könnte es im Deutschen das Flächenhafte nennen.
Wenn nun also die Kugel ein vollkommenes Beyspiel
des natürlichen Helldunkels wäre; so würde ein Vieleck
ein Beyspiel des künstlichen seyn, wo alle Arten von
Lichtern, Halblichtern, Schatten und Reflexen bemerk-
lich wären.

856.

Die Traube ist als ein gutes Beyspiel eines ma-
lerischen Ganzen im Helldunkel anerkannt, um so mehr
als sie ihrer Form nach eine vorzügliche Gruppe dar-
zustellen im Stande ist; aber sie ist bloß für den Mei-
ster tauglich, der das, was er auszuüben versteht, in ihr
zu sehen weiß.

wieder der eigene Schatten des Koͤrpers, der auf andre
Koͤrper geworfene Schatten, der erhellte Schatten oder
Reflex.

854.

Zum natuͤrlichſten Beyſpiel fuͤr das Helldunkel waͤre
die Kugel guͤnſtig, um ſich einen allgemeinen Begriff
zu bilden, aber nicht hinlaͤnglich zum aͤſthetiſchen Ge-
brauch. Die verfließende Einheit einer ſolchen Run-
dung fuͤhrt zum Nebuliſtiſchen. Um Kunſtwirkungen zu
erzwecken, muͤſſen an ihr Flaͤchen hervorgebracht werden,
damit die Theile der Schatten- und Lichtſeite ſich mehr
in ſich ſelbſt abſondern.

855.

Die Italiaͤner nennen dieſes il piazzoſo; man
koͤnnte es im Deutſchen das Flaͤchenhafte nennen.
Wenn nun alſo die Kugel ein vollkommenes Beyſpiel
des natuͤrlichen Helldunkels waͤre; ſo wuͤrde ein Vieleck
ein Beyſpiel des kuͤnſtlichen ſeyn, wo alle Arten von
Lichtern, Halblichtern, Schatten und Reflexen bemerk-
lich waͤren.

856.

Die Traube iſt als ein gutes Beyſpiel eines ma-
leriſchen Ganzen im Helldunkel anerkannt, um ſo mehr
als ſie ihrer Form nach eine vorzuͤgliche Gruppe dar-
zuſtellen im Stande iſt; aber ſie iſt bloß fuͤr den Mei-
ſter tauglich, der das, was er auszuuͤben verſteht, in ihr
zu ſehen weiß.

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[317/0371] wieder der eigene Schatten des Koͤrpers, der auf andre Koͤrper geworfene Schatten, der erhellte Schatten oder Reflex. 854. Zum natuͤrlichſten Beyſpiel fuͤr das Helldunkel waͤre die Kugel guͤnſtig, um ſich einen allgemeinen Begriff zu bilden, aber nicht hinlaͤnglich zum aͤſthetiſchen Ge- brauch. Die verfließende Einheit einer ſolchen Run- dung fuͤhrt zum Nebuliſtiſchen. Um Kunſtwirkungen zu erzwecken, muͤſſen an ihr Flaͤchen hervorgebracht werden, damit die Theile der Schatten- und Lichtſeite ſich mehr in ſich ſelbſt abſondern. 855. Die Italiaͤner nennen dieſes il piazzoſo; man koͤnnte es im Deutſchen das Flaͤchenhafte nennen. Wenn nun alſo die Kugel ein vollkommenes Beyſpiel des natuͤrlichen Helldunkels waͤre; ſo wuͤrde ein Vieleck ein Beyſpiel des kuͤnſtlichen ſeyn, wo alle Arten von Lichtern, Halblichtern, Schatten und Reflexen bemerk- lich waͤren. 856. Die Traube iſt als ein gutes Beyſpiel eines ma- leriſchen Ganzen im Helldunkel anerkannt, um ſo mehr als ſie ihrer Form nach eine vorzuͤgliche Gruppe dar- zuſtellen im Stande iſt; aber ſie iſt bloß fuͤr den Mei- ſter tauglich, der das, was er auszuuͤben verſteht, in ihr zu ſehen weiß.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/371>, abgerufen am 25.04.2024.