Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

nauer nachforschen, wie es denn eigentlich damit aus-
sehe. Aber daß wir sogleich zu den Ibilitäten, zu den
Keiten geführt werden, daß wir den Beweis derselben
mit Gefallen aufnehmen sollen, ja daß wir nur darauf
eingehen sollen, sie uns beweisen zu lassen, ist eine
starke Forderung.


Beweis durch Experimente.

30.

Wir möchten nicht gern gleich von Anfang unsre
Leser durch irgend eine Paradoxie scheu machen, wir
können uns aber doch nicht enthalten, zu behaupten,
daß sich durch Erfahrungen und Versuche eigentlich nichts
beweisen läßt. Die Phänomene lassen sich sehr genau
beobachten, die Versuche lassen sich reinlich anstellen,
man kann Erfahrungen und Versuche in einer gewissen
Ordnung aufführen, man kann eine Erscheinung aus
der andern ableiten, man kann einen gewissen Kreis des
Wissens darstellen, man kann seine Anschauungen zur
Gewißheit und Vollständigkeit erheben, und das, dächte
ich, wäre schon genug. Folgerungen hingegen zieht je-
der für sich daraus; beweisen läßt sich nichts dadurch,
besonders keine Ibilitäten und Keiten. Alles, was Mey-
nungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an,
und wir wissen nur zu sehr, daß die Ueberzeugung nicht
von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt; daß

nauer nachforſchen, wie es denn eigentlich damit aus-
ſehe. Aber daß wir ſogleich zu den Ibilitaͤten, zu den
Keiten gefuͤhrt werden, daß wir den Beweis derſelben
mit Gefallen aufnehmen ſollen, ja daß wir nur darauf
eingehen ſollen, ſie uns beweiſen zu laſſen, iſt eine
ſtarke Forderung.


Beweis durch Experimente.

30.

Wir moͤchten nicht gern gleich von Anfang unſre
Leſer durch irgend eine Paradoxie ſcheu machen, wir
koͤnnen uns aber doch nicht enthalten, zu behaupten,
daß ſich durch Erfahrungen und Verſuche eigentlich nichts
beweiſen laͤßt. Die Phaͤnomene laſſen ſich ſehr genau
beobachten, die Verſuche laſſen ſich reinlich anſtellen,
man kann Erfahrungen und Verſuche in einer gewiſſen
Ordnung auffuͤhren, man kann eine Erſcheinung aus
der andern ableiten, man kann einen gewiſſen Kreis des
Wiſſens darſtellen, man kann ſeine Anſchauungen zur
Gewißheit und Vollſtaͤndigkeit erheben, und das, daͤchte
ich, waͤre ſchon genug. Folgerungen hingegen zieht je-
der fuͤr ſich daraus; beweiſen laͤßt ſich nichts dadurch,
beſonders keine Ibilitaͤten und Keiten. Alles, was Mey-
nungen uͤber die Dinge ſind, gehoͤrt dem Individuum an,
und wir wiſſen nur zu ſehr, daß die Ueberzeugung nicht
von der Einſicht, ſondern von dem Willen abhaͤngt; daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0427" n="373"/>
nauer nachfor&#x017F;chen, wie es denn eigentlich damit aus-<lb/>
&#x017F;ehe. Aber daß wir &#x017F;ogleich zu den Ibilita&#x0364;ten, zu den<lb/>
Keiten gefu&#x0364;hrt werden, daß wir den Beweis der&#x017F;elben<lb/>
mit Gefallen aufnehmen &#x017F;ollen, ja daß wir nur darauf<lb/>
eingehen &#x017F;ollen, &#x017F;ie uns bewei&#x017F;en zu la&#x017F;&#x017F;en, i&#x017F;t eine<lb/>
&#x017F;tarke Forderung.</p>
            </div><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <div n="4">
              <head>Beweis durch Experimente.</head><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
              <div n="5">
                <head>30.</head><lb/>
                <p>Wir mo&#x0364;chten nicht gern gleich von Anfang un&#x017F;re<lb/>
Le&#x017F;er durch irgend eine Paradoxie &#x017F;cheu machen, wir<lb/>
ko&#x0364;nnen uns aber doch nicht enthalten, zu behaupten,<lb/>
daß &#x017F;ich durch Erfahrungen und Ver&#x017F;uche eigentlich nichts<lb/>
bewei&#x017F;en la&#x0364;ßt. Die Pha&#x0364;nomene la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich &#x017F;ehr genau<lb/>
beobachten, die Ver&#x017F;uche la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich reinlich an&#x017F;tellen,<lb/>
man kann Erfahrungen und Ver&#x017F;uche in einer gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Ordnung auffu&#x0364;hren, man kann eine Er&#x017F;cheinung aus<lb/>
der andern ableiten, man kann einen gewi&#x017F;&#x017F;en Kreis des<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;ens dar&#x017F;tellen, man kann &#x017F;eine An&#x017F;chauungen zur<lb/>
Gewißheit und Voll&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit erheben, und das, da&#x0364;chte<lb/>
ich, wa&#x0364;re &#x017F;chon genug. Folgerungen hingegen zieht je-<lb/>
der fu&#x0364;r &#x017F;ich daraus; bewei&#x017F;en la&#x0364;ßt &#x017F;ich nichts dadurch,<lb/>
be&#x017F;onders keine Ibilita&#x0364;ten und Keiten. Alles, was Mey-<lb/>
nungen u&#x0364;ber die Dinge &#x017F;ind, geho&#x0364;rt dem Individuum an,<lb/>
und wir wi&#x017F;&#x017F;en nur zu &#x017F;ehr, daß die Ueberzeugung nicht<lb/>
von der Ein&#x017F;icht, &#x017F;ondern von dem Willen abha&#x0364;ngt; daß<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[373/0427] nauer nachforſchen, wie es denn eigentlich damit aus- ſehe. Aber daß wir ſogleich zu den Ibilitaͤten, zu den Keiten gefuͤhrt werden, daß wir den Beweis derſelben mit Gefallen aufnehmen ſollen, ja daß wir nur darauf eingehen ſollen, ſie uns beweiſen zu laſſen, iſt eine ſtarke Forderung. Beweis durch Experimente. 30. Wir moͤchten nicht gern gleich von Anfang unſre Leſer durch irgend eine Paradoxie ſcheu machen, wir koͤnnen uns aber doch nicht enthalten, zu behaupten, daß ſich durch Erfahrungen und Verſuche eigentlich nichts beweiſen laͤßt. Die Phaͤnomene laſſen ſich ſehr genau beobachten, die Verſuche laſſen ſich reinlich anſtellen, man kann Erfahrungen und Verſuche in einer gewiſſen Ordnung auffuͤhren, man kann eine Erſcheinung aus der andern ableiten, man kann einen gewiſſen Kreis des Wiſſens darſtellen, man kann ſeine Anſchauungen zur Gewißheit und Vollſtaͤndigkeit erheben, und das, daͤchte ich, waͤre ſchon genug. Folgerungen hingegen zieht je- der fuͤr ſich daraus; beweiſen laͤßt ſich nichts dadurch, beſonders keine Ibilitaͤten und Keiten. Alles, was Mey- nungen uͤber die Dinge ſind, gehoͤrt dem Individuum an, und wir wiſſen nur zu ſehr, daß die Ueberzeugung nicht von der Einſicht, ſondern von dem Willen abhaͤngt; daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/427
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/427>, abgerufen am 25.04.2024.