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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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zu entdecken, was wenigstens zu des Beobachters Ent-
schuldigung dienen könne.

77.

5) Folgerung. Nachdem wir gezeigt, wie es
mit den Prämissen stehe, so haben wir unsres Bedün-
kens das vollkommenste Recht, die Folgerung ohne wei-
teres zu läugnen. Ja wir ergreifen diese Gelegenheit,
den Leser auf einen wichtigen Punct aufmerksam zu
machen, der noch öfters zur Sprache kommen wird.
Es ist der, daß die Newtonische Lehre durchaus zu-
viel beweist. Denn wenn sie wahr wäre, so könnte es
eigentlich gar keine dioptrischen Fernröhre geben; wie
denn auch Newton aus seiner Theorie die Unmöglichkeit
ihrer Verbesserung folgerte: ja selbst unserm bloßen
Auge müßten farbige Gegenstände neben einander durch-
aus verworren erscheinen, wenn sich die Sache wirklich
so verhielte. Denn man denke sich ein Haus, das in
vollem Sonnenlicht stünde; es hätte ein rothes Ziegel-
dach, wäre gelb angestrichen, hätte grüne Schaltern,
hinter den offnen Fenstern blaue Vorhänge, und ein
Frauenzimmer ginge im violetten Kleide zur Thüre
heraus. Betrachteten wir nun das Ganze mit seinen
Theilen aus einem gewissen Standpuncte, wo wir es
auf einmal ins Auge fassen könnten, und die Ziegel
wären uns recht deutlich, wir wendeten aber das Auge
sogleich auf das Frauenzimmer, so würden wir die
Form und die Falten ihres Kleides keinesweges be-
stimmt erblicken, wir müßten vorwärts treten, und sä-
hen wir das Frauenzimmer deutlich, so müßten uns die

zu entdecken, was wenigſtens zu des Beobachters Ent-
ſchuldigung dienen koͤnne.

77.

5) Folgerung. Nachdem wir gezeigt, wie es
mit den Praͤmiſſen ſtehe, ſo haben wir unſres Beduͤn-
kens das vollkommenſte Recht, die Folgerung ohne wei-
teres zu laͤugnen. Ja wir ergreifen dieſe Gelegenheit,
den Leſer auf einen wichtigen Punct aufmerkſam zu
machen, der noch oͤfters zur Sprache kommen wird.
Es iſt der, daß die Newtoniſche Lehre durchaus zu-
viel beweiſt. Denn wenn ſie wahr waͤre, ſo koͤnnte es
eigentlich gar keine dioptriſchen Fernroͤhre geben; wie
denn auch Newton aus ſeiner Theorie die Unmoͤglichkeit
ihrer Verbeſſerung folgerte: ja ſelbſt unſerm bloßen
Auge muͤßten farbige Gegenſtaͤnde neben einander durch-
aus verworren erſcheinen, wenn ſich die Sache wirklich
ſo verhielte. Denn man denke ſich ein Haus, das in
vollem Sonnenlicht ſtuͤnde; es haͤtte ein rothes Ziegel-
dach, waͤre gelb angeſtrichen, haͤtte gruͤne Schaltern,
hinter den offnen Fenſtern blaue Vorhaͤnge, und ein
Frauenzimmer ginge im violetten Kleide zur Thuͤre
heraus. Betrachteten wir nun das Ganze mit ſeinen
Theilen aus einem gewiſſen Standpuncte, wo wir es
auf einmal ins Auge faſſen koͤnnten, und die Ziegel
waͤren uns recht deutlich, wir wendeten aber das Auge
ſogleich auf das Frauenzimmer, ſo wuͤrden wir die
Form und die Falten ihres Kleides keinesweges be-
ſtimmt erblicken, wir muͤßten vorwaͤrts treten, und ſaͤ-
hen wir das Frauenzimmer deutlich, ſo muͤßten uns die

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[398/0452] zu entdecken, was wenigſtens zu des Beobachters Ent- ſchuldigung dienen koͤnne. 77. 5) Folgerung. Nachdem wir gezeigt, wie es mit den Praͤmiſſen ſtehe, ſo haben wir unſres Beduͤn- kens das vollkommenſte Recht, die Folgerung ohne wei- teres zu laͤugnen. Ja wir ergreifen dieſe Gelegenheit, den Leſer auf einen wichtigen Punct aufmerkſam zu machen, der noch oͤfters zur Sprache kommen wird. Es iſt der, daß die Newtoniſche Lehre durchaus zu- viel beweiſt. Denn wenn ſie wahr waͤre, ſo koͤnnte es eigentlich gar keine dioptriſchen Fernroͤhre geben; wie denn auch Newton aus ſeiner Theorie die Unmoͤglichkeit ihrer Verbeſſerung folgerte: ja ſelbſt unſerm bloßen Auge muͤßten farbige Gegenſtaͤnde neben einander durch- aus verworren erſcheinen, wenn ſich die Sache wirklich ſo verhielte. Denn man denke ſich ein Haus, das in vollem Sonnenlicht ſtuͤnde; es haͤtte ein rothes Ziegel- dach, waͤre gelb angeſtrichen, haͤtte gruͤne Schaltern, hinter den offnen Fenſtern blaue Vorhaͤnge, und ein Frauenzimmer ginge im violetten Kleide zur Thuͤre heraus. Betrachteten wir nun das Ganze mit ſeinen Theilen aus einem gewiſſen Standpuncte, wo wir es auf einmal ins Auge faſſen koͤnnten, und die Ziegel waͤren uns recht deutlich, wir wendeten aber das Auge ſogleich auf das Frauenzimmer, ſo wuͤrden wir die Form und die Falten ihres Kleides keinesweges be- ſtimmt erblicken, wir muͤßten vorwaͤrts treten, und ſaͤ- hen wir das Frauenzimmer deutlich, ſo muͤßten uns die

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/452>, abgerufen am 25.04.2024.