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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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11.

Bey wissenschaftlichen Beobachtungen kann die Unem-
pfänglichkeit des Auges für schwache Lichteindrücke, wenn
man aus dem Hellen ins Dunkle geht, zu sonderbaren
Irrthümern Gelegenheit geben. So glaubte ein Beobach-
ter, dessen Auge sich langsam herstellte, eine ganze Zeit,
das faule Holz leuchte nicht um Mittag, selbst in der dun-
keln Kammer. Er sah nämlich das schwache Leuchten
nicht, weil er aus dem hellen Sonnenschein in die dunkle
Kammer zu gehen pflegte und erst später einmal so lange
darin verweilte, bis sich das Auge wieder hergestellt hatte.

Eben so mag es dem Doctor Wall mit dem electri-
schen Scheine des Bernsteins gegangen seyn, den er bey
Tage, selbst im dunkeln Zimmer, kaum gewahr werden
konnte.

Das Nichtsehen der Sterne bey Tage, das Besser-
sehen der Gemälde durch eine doppelte Röhre ist auch
hieher zu rechnen.

12.

Wer einen völlig dunkeln Ort mit einem, den die
Sonne bescheint, verwechselt, wird geblendet. Wer aus
der Dämmrung ins nicht blendende Helle kommt, bemerkt
alle Gegenstände frischer und besser; daher ein ausgeruh-
tes Auge durchaus für mäßige Erscheinungen empfängli-
cher ist.

Bey Gefangenen, welche lange im Finstern gesessen,
ist die Empfänglichkeit der Retina so groß, daß sie im
Finstern (wahrscheinlich in einem wenig erhellten Dun-
kel) schon Gegenstände unterscheiden.

11.

Bey wiſſenſchaftlichen Beobachtungen kann die Unem-
pfaͤnglichkeit des Auges fuͤr ſchwache Lichteindruͤcke, wenn
man aus dem Hellen ins Dunkle geht, zu ſonderbaren
Irrthuͤmern Gelegenheit geben. So glaubte ein Beobach-
ter, deſſen Auge ſich langſam herſtellte, eine ganze Zeit,
das faule Holz leuchte nicht um Mittag, ſelbſt in der dun-
keln Kammer. Er ſah naͤmlich das ſchwache Leuchten
nicht, weil er aus dem hellen Sonnenſchein in die dunkle
Kammer zu gehen pflegte und erſt ſpaͤter einmal ſo lange
darin verweilte, bis ſich das Auge wieder hergeſtellt hatte.

Eben ſo mag es dem Doctor Wall mit dem electri-
ſchen Scheine des Bernſteins gegangen ſeyn, den er bey
Tage, ſelbſt im dunkeln Zimmer, kaum gewahr werden
konnte.

Das Nichtſehen der Sterne bey Tage, das Beſſer-
ſehen der Gemaͤlde durch eine doppelte Roͤhre iſt auch
hieher zu rechnen.

12.

Wer einen voͤllig dunkeln Ort mit einem, den die
Sonne beſcheint, verwechſelt, wird geblendet. Wer aus
der Daͤmmrung ins nicht blendende Helle kommt, bemerkt
alle Gegenſtaͤnde friſcher und beſſer; daher ein ausgeruh-
tes Auge durchaus fuͤr maͤßige Erſcheinungen empfaͤngli-
cher iſt.

Bey Gefangenen, welche lange im Finſtern geſeſſen,
iſt die Empfaͤnglichkeit der Retina ſo groß, daß ſie im
Finſtern (wahrſcheinlich in einem wenig erhellten Dun-
kel) ſchon Gegenſtaͤnde unterſcheiden.

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[4/0058] 11. Bey wiſſenſchaftlichen Beobachtungen kann die Unem- pfaͤnglichkeit des Auges fuͤr ſchwache Lichteindruͤcke, wenn man aus dem Hellen ins Dunkle geht, zu ſonderbaren Irrthuͤmern Gelegenheit geben. So glaubte ein Beobach- ter, deſſen Auge ſich langſam herſtellte, eine ganze Zeit, das faule Holz leuchte nicht um Mittag, ſelbſt in der dun- keln Kammer. Er ſah naͤmlich das ſchwache Leuchten nicht, weil er aus dem hellen Sonnenſchein in die dunkle Kammer zu gehen pflegte und erſt ſpaͤter einmal ſo lange darin verweilte, bis ſich das Auge wieder hergeſtellt hatte. Eben ſo mag es dem Doctor Wall mit dem electri- ſchen Scheine des Bernſteins gegangen ſeyn, den er bey Tage, ſelbſt im dunkeln Zimmer, kaum gewahr werden konnte. Das Nichtſehen der Sterne bey Tage, das Beſſer- ſehen der Gemaͤlde durch eine doppelte Roͤhre iſt auch hieher zu rechnen. 12. Wer einen voͤllig dunkeln Ort mit einem, den die Sonne beſcheint, verwechſelt, wird geblendet. Wer aus der Daͤmmrung ins nicht blendende Helle kommt, bemerkt alle Gegenſtaͤnde friſcher und beſſer; daher ein ausgeruh- tes Auge durchaus fuͤr maͤßige Erſcheinungen empfaͤngli- cher iſt. Bey Gefangenen, welche lange im Finſtern geſeſſen, iſt die Empfaͤnglichkeit der Retina ſo groß, daß ſie im Finſtern (wahrſcheinlich in einem wenig erhellten Dun- kel) ſchon Gegenſtaͤnde unterſcheiden.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/58>, abgerufen am 19.04.2024.