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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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651.

Es ist recht merkwürdig, wie er endlich einmal
eine Erfahrung eingesteht, die einzig mögliche, die ein-
zig nothwendige, und sie sogleich wieder verdächtig
macht. Denn was von der einfachsten prismatischen
Erscheinung, wenn sie auf körperliche Farben fällt,
wahr ist, das bleibt wahr, man mag sie durch noch so
viel Oeffnungen, große und kleine, durch Linsen von
nahem oder weitem Brennpunct quälen und bedingen:
nie kann, nie wird etwas anders zum Vorschein
kommen.

652.

Wie benimmt sich aber unser Autor, um diese Un-
sicherheit seiner Schüler zu vermehren? Auf die ver-
schmitzteste Weise. Und betrachtet man diese Kniffe mit
redlichem Sinn, hat man ein lebendiges Gefühl fürs
Wahre, so kann man wohl sagen, der Autor benimmt
sich schändlich: denn man höre nur:

653.

Denn die Mennige, wenn man sie mit dem gewöhnlichen
prismatischen Grün erleuchtet, wird nicht roth oder grün, son-
dern orange oder gelb erscheinen, je nachdem das grüne
Licht, wodurch sie erleuchtet wird, mehr oder weniger zusam-
mengesetzt ist.

654.

Warum geht er denn hier nicht grad- oder stu-

651.

Es iſt recht merkwuͤrdig, wie er endlich einmal
eine Erfahrung eingeſteht, die einzig moͤgliche, die ein-
zig nothwendige, und ſie ſogleich wieder verdaͤchtig
macht. Denn was von der einfachſten prismatiſchen
Erſcheinung, wenn ſie auf koͤrperliche Farben faͤllt,
wahr iſt, das bleibt wahr, man mag ſie durch noch ſo
viel Oeffnungen, große und kleine, durch Linſen von
nahem oder weitem Brennpunct quaͤlen und bedingen:
nie kann, nie wird etwas anders zum Vorſchein
kommen.

652.

Wie benimmt ſich aber unſer Autor, um dieſe Un-
ſicherheit ſeiner Schuͤler zu vermehren? Auf die ver-
ſchmitzteſte Weiſe. Und betrachtet man dieſe Kniffe mit
redlichem Sinn, hat man ein lebendiges Gefuͤhl fuͤrs
Wahre, ſo kann man wohl ſagen, der Autor benimmt
ſich ſchaͤndlich: denn man hoͤre nur:

653.

Dénn die Mennige, wenn man ſie mit dem gewoͤhnlichen
prismatiſchen Gruͤn erleuchtet, wird nicht roth oder gruͤn, ſon-
dern orange oder gelb erſcheinen, je nachdem das gruͤne
Licht, wodurch ſie erleuchtet wird, mehr oder weniger zuſam-
mengeſetzt iſt.

654.

Warum geht er denn hier nicht grad- oder ſtu-

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[634/0688] 651. Es iſt recht merkwuͤrdig, wie er endlich einmal eine Erfahrung eingeſteht, die einzig moͤgliche, die ein- zig nothwendige, und ſie ſogleich wieder verdaͤchtig macht. Denn was von der einfachſten prismatiſchen Erſcheinung, wenn ſie auf koͤrperliche Farben faͤllt, wahr iſt, das bleibt wahr, man mag ſie durch noch ſo viel Oeffnungen, große und kleine, durch Linſen von nahem oder weitem Brennpunct quaͤlen und bedingen: nie kann, nie wird etwas anders zum Vorſchein kommen. 652. Wie benimmt ſich aber unſer Autor, um dieſe Un- ſicherheit ſeiner Schuͤler zu vermehren? Auf die ver- ſchmitzteſte Weiſe. Und betrachtet man dieſe Kniffe mit redlichem Sinn, hat man ein lebendiges Gefuͤhl fuͤrs Wahre, ſo kann man wohl ſagen, der Autor benimmt ſich ſchaͤndlich: denn man hoͤre nur: 653. Dénn die Mennige, wenn man ſie mit dem gewoͤhnlichen prismatiſchen Gruͤn erleuchtet, wird nicht roth oder gruͤn, ſon- dern orange oder gelb erſcheinen, je nachdem das gruͤne Licht, wodurch ſie erleuchtet wird, mehr oder weniger zuſam- mengeſetzt iſt. 654. Warum geht er denn hier nicht grad- oder ſtu-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/688>, abgerufen am 25.04.2024.