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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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nien schön grüne, die Calendeln lebhaft blaue Spec-
tra hervor.

55.

So wie bey den Versuchen mit farbigen Bildern
auf einzelnen Theilen der Retina ein Farbenwechsel ge-
setzmäßig entsteht, so geschieht dasselbe, wenn die ganze
Netzhaut von Einer Farbe afficirt wird. Hievon kön-
nen wir uns überzeugen, wenn wir farbige Glasschei-
ben vors Auge nehmen. Man blicke eine Zeit lang
durch eine blaue Scheibe, so wird die Welt nachher
dem befreyten Auge, wie von der Sonne erleuchtet er-
scheinen, wenn auch gleich der Tag grau und die Ge-
gend herbstlich farblos wäre. Eben so sehen wir, in-
dem wir eine grüne Brille weglegen, die Gegenstände
mit einem röthlichen Schein überglänzt. Ich sollte da-
her glauben, daß es nicht wohlgethan sey, zu Scho-
nung der Augen sich grüner Gläser, oder grünen Pa-
piers zu bedienen, weil jede Farbspecification dem Au-
ge Gewalt anthut, und das Organ zur Opposition nö-
thigt.

56.

Haben wir bisher die entgegengesetzten Farben sich
einander successiv auf der Retina fordern sehen; so
bleibt uns noch übrig zu erfahren, daß diese gesetzliche
Forderung auch simultan bestehen könne. Malt sich
auf einem Theile der Netzhaut ein farbiges Bild, so
findet sich der übrige Theil sogleich in einer Disposition,
die bemerkten correspondirenden Farben hervorzubringen.
Setzt man obige Versuche fort, und blickt z. B. vor
einer weißen Fläche auf ein gelbes Stück Papier; so

nien ſchoͤn gruͤne, die Calendeln lebhaft blaue Spec-
tra hervor.

55.

So wie bey den Verſuchen mit farbigen Bildern
auf einzelnen Theilen der Retina ein Farbenwechſel ge-
ſetzmaͤßig entſteht, ſo geſchieht daſſelbe, wenn die ganze
Netzhaut von Einer Farbe afficirt wird. Hievon koͤn-
nen wir uns uͤberzeugen, wenn wir farbige Glasſchei-
ben vors Auge nehmen. Man blicke eine Zeit lang
durch eine blaue Scheibe, ſo wird die Welt nachher
dem befreyten Auge, wie von der Sonne erleuchtet er-
ſcheinen, wenn auch gleich der Tag grau und die Ge-
gend herbſtlich farblos waͤre. Eben ſo ſehen wir, in-
dem wir eine gruͤne Brille weglegen, die Gegenſtaͤnde
mit einem roͤthlichen Schein uͤberglaͤnzt. Ich ſollte da-
her glauben, daß es nicht wohlgethan ſey, zu Scho-
nung der Augen ſich gruͤner Glaͤſer, oder gruͤnen Pa-
piers zu bedienen, weil jede Farbſpecification dem Au-
ge Gewalt anthut, und das Organ zur Oppoſition noͤ-
thigt.

56.

Haben wir bisher die entgegengeſetzten Farben ſich
einander ſucceſſiv auf der Retina fordern ſehen; ſo
bleibt uns noch uͤbrig zu erfahren, daß dieſe geſetzliche
Forderung auch ſimultan beſtehen koͤnne. Malt ſich
auf einem Theile der Netzhaut ein farbiges Bild, ſo
findet ſich der uͤbrige Theil ſogleich in einer Diſpoſition,
die bemerkten correſpondirenden Farben hervorzubringen.
Setzt man obige Verſuche fort, und blickt z. B. vor
einer weißen Flaͤche auf ein gelbes Stuͤck Papier; ſo

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[23/0077] nien ſchoͤn gruͤne, die Calendeln lebhaft blaue Spec- tra hervor. 55. So wie bey den Verſuchen mit farbigen Bildern auf einzelnen Theilen der Retina ein Farbenwechſel ge- ſetzmaͤßig entſteht, ſo geſchieht daſſelbe, wenn die ganze Netzhaut von Einer Farbe afficirt wird. Hievon koͤn- nen wir uns uͤberzeugen, wenn wir farbige Glasſchei- ben vors Auge nehmen. Man blicke eine Zeit lang durch eine blaue Scheibe, ſo wird die Welt nachher dem befreyten Auge, wie von der Sonne erleuchtet er- ſcheinen, wenn auch gleich der Tag grau und die Ge- gend herbſtlich farblos waͤre. Eben ſo ſehen wir, in- dem wir eine gruͤne Brille weglegen, die Gegenſtaͤnde mit einem roͤthlichen Schein uͤberglaͤnzt. Ich ſollte da- her glauben, daß es nicht wohlgethan ſey, zu Scho- nung der Augen ſich gruͤner Glaͤſer, oder gruͤnen Pa- piers zu bedienen, weil jede Farbſpecification dem Au- ge Gewalt anthut, und das Organ zur Oppoſition noͤ- thigt. 56. Haben wir bisher die entgegengeſetzten Farben ſich einander ſucceſſiv auf der Retina fordern ſehen; ſo bleibt uns noch uͤbrig zu erfahren, daß dieſe geſetzliche Forderung auch ſimultan beſtehen koͤnne. Malt ſich auf einem Theile der Netzhaut ein farbiges Bild, ſo findet ſich der uͤbrige Theil ſogleich in einer Diſpoſition, die bemerkten correſpondirenden Farben hervorzubringen. Setzt man obige Verſuche fort, und blickt z. B. vor einer weißen Flaͤche auf ein gelbes Stuͤck Papier; ſo

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/77>, abgerufen am 20.04.2024.