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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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solche auch in den umgekehrten bemerken. Nimmt man
ein sehr lebhaft orange gefärbtes Stückchen Papier vor
die weiße Fläche, so wird man, wenn man es scharf
ansieht, das auf der übrigen Fläche geforderte Blau
schwerlich gewahr werden. Nimmt man aber das oran-
ge Papier weg, und erscheint an dessen Platz das blaue
Scheinbild; so wird sich in dem Augenblick, da dieses
völlig wirksam ist, die übrige Fläche, wie in einer Art
von Wetterleuchten, mit einem röthlich gelben Schein
überziehen, und wird dem Beobachter die productive
Forderung dieser Gesetzlichkeit zum lebhaften Anschauen
bringen.

59.

Wie die geforderten Farben, da wo sie nicht sind,
neben und nach der fordernden leicht erscheinen; so
werden sie erhöht, da wo sie sind. In einem Hofe,
der mit grauen Kalksteinen gepflastert und mit Gras
durchwachsen war, erschien das Gras von einer unend-
lich schönen Grüne, als Abendwolken einen röthlichen
kaum bemerklichen Schein auf das Pflaster warfen.
Im umgekehrten Falle sieht derjenige, der bey einer
mittleren Helle des Himmels auf Wiesen wandelt, und
nichts als Grün vor sich sieht, öfters die Baumstämme
und Wege mit einem röthlichen Scheine leuchten. Bey
Landschaftmahlern, besonders denjenigen, die mit Aqua-
rellfarben arbeiten, kommt dieser Ton öfters vor. Wahr-
scheinlich sehen sie ihn in der Natur, ahmen ihn un-
bewußt nach und ihre Arbeit wird als unnatürlich ge-
tadelt.

ſolche auch in den umgekehrten bemerken. Nimmt man
ein ſehr lebhaft orange gefaͤrbtes Stuͤckchen Papier vor
die weiße Flaͤche, ſo wird man, wenn man es ſcharf
anſieht, das auf der uͤbrigen Flaͤche geforderte Blau
ſchwerlich gewahr werden. Nimmt man aber das oran-
ge Papier weg, und erſcheint an deſſen Platz das blaue
Scheinbild; ſo wird ſich in dem Augenblick, da dieſes
voͤllig wirkſam iſt, die uͤbrige Flaͤche, wie in einer Art
von Wetterleuchten, mit einem roͤthlich gelben Schein
uͤberziehen, und wird dem Beobachter die productive
Forderung dieſer Geſetzlichkeit zum lebhaften Anſchauen
bringen.

59.

Wie die geforderten Farben, da wo ſie nicht ſind,
neben und nach der fordernden leicht erſcheinen; ſo
werden ſie erhoͤht, da wo ſie ſind. In einem Hofe,
der mit grauen Kalkſteinen gepflaſtert und mit Gras
durchwachſen war, erſchien das Gras von einer unend-
lich ſchoͤnen Gruͤne, als Abendwolken einen roͤthlichen
kaum bemerklichen Schein auf das Pflaſter warfen.
Im umgekehrten Falle ſieht derjenige, der bey einer
mittleren Helle des Himmels auf Wieſen wandelt, und
nichts als Gruͤn vor ſich ſieht, oͤfters die Baumſtaͤmme
und Wege mit einem roͤthlichen Scheine leuchten. Bey
Landſchaftmahlern, beſonders denjenigen, die mit Aqua-
rellfarben arbeiten, kommt dieſer Ton oͤfters vor. Wahr-
ſcheinlich ſehen ſie ihn in der Natur, ahmen ihn un-
bewußt nach und ihre Arbeit wird als unnatuͤrlich ge-
tadelt.

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[25/0079] ſolche auch in den umgekehrten bemerken. Nimmt man ein ſehr lebhaft orange gefaͤrbtes Stuͤckchen Papier vor die weiße Flaͤche, ſo wird man, wenn man es ſcharf anſieht, das auf der uͤbrigen Flaͤche geforderte Blau ſchwerlich gewahr werden. Nimmt man aber das oran- ge Papier weg, und erſcheint an deſſen Platz das blaue Scheinbild; ſo wird ſich in dem Augenblick, da dieſes voͤllig wirkſam iſt, die uͤbrige Flaͤche, wie in einer Art von Wetterleuchten, mit einem roͤthlich gelben Schein uͤberziehen, und wird dem Beobachter die productive Forderung dieſer Geſetzlichkeit zum lebhaften Anſchauen bringen. 59. Wie die geforderten Farben, da wo ſie nicht ſind, neben und nach der fordernden leicht erſcheinen; ſo werden ſie erhoͤht, da wo ſie ſind. In einem Hofe, der mit grauen Kalkſteinen gepflaſtert und mit Gras durchwachſen war, erſchien das Gras von einer unend- lich ſchoͤnen Gruͤne, als Abendwolken einen roͤthlichen kaum bemerklichen Schein auf das Pflaſter warfen. Im umgekehrten Falle ſieht derjenige, der bey einer mittleren Helle des Himmels auf Wieſen wandelt, und nichts als Gruͤn vor ſich ſieht, oͤfters die Baumſtaͤmme und Wege mit einem roͤthlichen Scheine leuchten. Bey Landſchaftmahlern, beſonders denjenigen, die mit Aqua- rellfarben arbeiten, kommt dieſer Ton oͤfters vor. Wahr- ſcheinlich ſehen ſie ihn in der Natur, ahmen ihn un- bewußt nach und ihre Arbeit wird als unnatuͤrlich ge- tadelt.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/79>, abgerufen am 25.04.2024.