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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Betrachtungen
über vorstehende Abhandlung
.

Wenn der denkende Geschichtsforscher mit Betrüb-
niß bemerken muß, daß Wahrheit so wenig als Glück
einen dauerhaften Sitz auf der Erde gewinnen können,
da dieses mit manchem Unheil, jene mit manchem
Irrthum beständig abzuwechseln hat; so ist es ihm
desto erfreulicher, zu sehen, wenn die Wahrheit auch
in Zeiten wo sie nicht durchdringen kann, nur gleich-
sam eine Protestation einlegt, um ihre Rechte, wo
nicht zu behaupten, doch zu verwahren.

Mit dieser vergnüglichen Empfindung lesen wir
vorstehende Schrift, die wir den Freunden der Wissen-
schaft nicht genug empfehlen können. Sie ist verfaßt
von einem unbebekannten, unbedeutenden französischen
Geistlichen, der zu derselben Zeit den echten Funda-
menten der Farbenlehre ganz nahe tritt und seine Ue-
berzeugungen einfach und naiv ausspricht, als eben
Newton von allem Glanze des Ruhms umgeben seine
Optik bekannt macht, um mit dem wunderlichsten al-
ler Irrthümer ein ganzes Jahrhundert zu stempeln.

Ein solcher Vorgang ist keinesweges wunderbar:
denn außerordentliche Menschen üben eine solche Ge-
walt aus, daß sie ganz bequem ihre zufälligen Irrthü-
mer fortpflanzen, indeß weniger begabte und beglückte
keine Mittel finden, ihren wohleingesehenen Wahrheiten
Raum zu machen.

Betrachtungen
uͤber vorſtehende Abhandlung
.

Wenn der denkende Geſchichtsforſcher mit Betruͤb-
niß bemerken muß, daß Wahrheit ſo wenig als Gluͤck
einen dauerhaften Sitz auf der Erde gewinnen koͤnnen,
da dieſes mit manchem Unheil, jene mit manchem
Irrthum beſtaͤndig abzuwechſeln hat; ſo iſt es ihm
deſto erfreulicher, zu ſehen, wenn die Wahrheit auch
in Zeiten wo ſie nicht durchdringen kann, nur gleich-
ſam eine Proteſtation einlegt, um ihre Rechte, wo
nicht zu behaupten, doch zu verwahren.

Mit dieſer vergnuͤglichen Empfindung leſen wir
vorſtehende Schrift, die wir den Freunden der Wiſſen-
ſchaft nicht genug empfehlen koͤnnen. Sie iſt verfaßt
von einem unbebekannten, unbedeutenden franzoͤſiſchen
Geiſtlichen, der zu derſelben Zeit den echten Funda-
menten der Farbenlehre ganz nahe tritt und ſeine Ue-
berzeugungen einfach und naiv ausſpricht, als eben
Newton von allem Glanze des Ruhms umgeben ſeine
Optik bekannt macht, um mit dem wunderlichſten al-
ler Irrthuͤmer ein ganzes Jahrhundert zu ſtempeln.

Ein ſolcher Vorgang iſt keinesweges wunderbar:
denn außerordentliche Menſchen uͤben eine ſolche Ge-
walt aus, daß ſie ganz bequem ihre zufaͤlligen Irrthuͤ-
mer fortpflanzen, indeß weniger begabte und begluͤckte
keine Mittel finden, ihren wohleingeſehenen Wahrheiten
Raum zu machen.

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[343/0377] Betrachtungen uͤber vorſtehende Abhandlung. Wenn der denkende Geſchichtsforſcher mit Betruͤb- niß bemerken muß, daß Wahrheit ſo wenig als Gluͤck einen dauerhaften Sitz auf der Erde gewinnen koͤnnen, da dieſes mit manchem Unheil, jene mit manchem Irrthum beſtaͤndig abzuwechſeln hat; ſo iſt es ihm deſto erfreulicher, zu ſehen, wenn die Wahrheit auch in Zeiten wo ſie nicht durchdringen kann, nur gleich- ſam eine Proteſtation einlegt, um ihre Rechte, wo nicht zu behaupten, doch zu verwahren. Mit dieſer vergnuͤglichen Empfindung leſen wir vorſtehende Schrift, die wir den Freunden der Wiſſen- ſchaft nicht genug empfehlen koͤnnen. Sie iſt verfaßt von einem unbebekannten, unbedeutenden franzoͤſiſchen Geiſtlichen, der zu derſelben Zeit den echten Funda- menten der Farbenlehre ganz nahe tritt und ſeine Ue- berzeugungen einfach und naiv ausſpricht, als eben Newton von allem Glanze des Ruhms umgeben ſeine Optik bekannt macht, um mit dem wunderlichſten al- ler Irrthuͤmer ein ganzes Jahrhundert zu ſtempeln. Ein ſolcher Vorgang iſt keinesweges wunderbar: denn außerordentliche Menſchen uͤben eine ſolche Ge- walt aus, daß ſie ganz bequem ihre zufaͤlligen Irrthuͤ- mer fortpflanzen, indeß weniger begabte und begluͤckte keine Mittel finden, ihren wohleingeſehenen Wahrheiten Raum zu machen.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/377>, abgerufen am 18.04.2024.