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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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lieferung. Auch hier übergehen wir vieles. Soll je-
doch für uns ein Faden aus der alten Welt in die
neue herüberreichen, so müssen wir dreyer Hauptmas-
sen gedenken, welche die größte, entschiedenste, ja oft
eine ausschließende Wirkung hervorgebracht haben, der
Bibel, der Werke Plato's und Aristoteles.

Jene große Verehrung, welche der Bibel von vie-
len Völkern und Ceschlechtern der Erde gewidmet wor-
den, verdankt sie ihrem innern Werth. Sie ist nicht
etwa nur ein Volksbuch, sondern das Buch der Völ-
ker, weil sie die Schicksale eines Volks zum Symbol
aller übrigen aufstellt, die Geschichte desselben an die
Entstehung der Welt anknüpft und durch eine Stufen-
reihe irdischer und geistiger Entwickelungen, nothwen-
diger und zufälliger Ereignisse, bis in die entferntesten
Regionen der äußersten Ewigkeiten hinausführt.

Wer das menschliche Herz, den Bildungsgang der
Einzelnen kennt, wird nicht in Abrede seyn, daß man
einen trefflichen Menschen tüchtig heraufbilden könnte,
ohne dabey ein anderes Buch zu brauchen als etwa
Tschudi's schweizerische, oder Aventins bayerische Chro-
nik. Wie vielmehr muß also die Bibel zu diesem
Zwecke genügen, da sie das Musterbuch zu jenen erst-
genannten gewesen, da das Volk, als dessen Chronik
sie sich darstellt, auf die Weltbegebenheiten so großen
Einfluß ausgeübt hat und noch ausübt.

Es ist uns nicht erlaubt, hier ins Einzelne zu ge-
hen; doch liegt einem Jeden vor Augen, wie in bey-

lieferung. Auch hier uͤbergehen wir vieles. Soll je-
doch fuͤr uns ein Faden aus der alten Welt in die
neue heruͤberreichen, ſo muͤſſen wir dreyer Hauptmaſ-
ſen gedenken, welche die groͤßte, entſchiedenſte, ja oft
eine ausſchließende Wirkung hervorgebracht haben, der
Bibel, der Werke Plato’s und Ariſtoteles.

Jene große Verehrung, welche der Bibel von vie-
len Voͤlkern und Ceſchlechtern der Erde gewidmet wor-
den, verdankt ſie ihrem innern Werth. Sie iſt nicht
etwa nur ein Volksbuch, ſondern das Buch der Voͤl-
ker, weil ſie die Schickſale eines Volks zum Symbol
aller uͤbrigen aufſtellt, die Geſchichte deſſelben an die
Entſtehung der Welt anknuͤpft und durch eine Stufen-
reihe irdiſcher und geiſtiger Entwickelungen, nothwen-
diger und zufaͤlliger Ereigniſſe, bis in die entfernteſten
Regionen der aͤußerſten Ewigkeiten hinausfuͤhrt.

Wer das menſchliche Herz, den Bildungsgang der
Einzelnen kennt, wird nicht in Abrede ſeyn, daß man
einen trefflichen Menſchen tuͤchtig heraufbilden koͤnnte,
ohne dabey ein anderes Buch zu brauchen als etwa
Tſchudi’s ſchweizeriſche, oder Aventins bayeriſche Chro-
nik. Wie vielmehr muß alſo die Bibel zu dieſem
Zwecke genuͤgen, da ſie das Muſterbuch zu jenen erſt-
genannten geweſen, da das Volk, als deſſen Chronik
ſie ſich darſtellt, auf die Weltbegebenheiten ſo großen
Einfluß ausgeuͤbt hat und noch ausuͤbt.

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hen; doch liegt einem Jeden vor Augen, wie in bey-

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[138/0172] lieferung. Auch hier uͤbergehen wir vieles. Soll je- doch fuͤr uns ein Faden aus der alten Welt in die neue heruͤberreichen, ſo muͤſſen wir dreyer Hauptmaſ- ſen gedenken, welche die groͤßte, entſchiedenſte, ja oft eine ausſchließende Wirkung hervorgebracht haben, der Bibel, der Werke Plato’s und Ariſtoteles. Jene große Verehrung, welche der Bibel von vie- len Voͤlkern und Ceſchlechtern der Erde gewidmet wor- den, verdankt ſie ihrem innern Werth. Sie iſt nicht etwa nur ein Volksbuch, ſondern das Buch der Voͤl- ker, weil ſie die Schickſale eines Volks zum Symbol aller uͤbrigen aufſtellt, die Geſchichte deſſelben an die Entſtehung der Welt anknuͤpft und durch eine Stufen- reihe irdiſcher und geiſtiger Entwickelungen, nothwen- diger und zufaͤlliger Ereigniſſe, bis in die entfernteſten Regionen der aͤußerſten Ewigkeiten hinausfuͤhrt. Wer das menſchliche Herz, den Bildungsgang der Einzelnen kennt, wird nicht in Abrede ſeyn, daß man einen trefflichen Menſchen tuͤchtig heraufbilden koͤnnte, ohne dabey ein anderes Buch zu brauchen als etwa Tſchudi’s ſchweizeriſche, oder Aventins bayeriſche Chro- nik. Wie vielmehr muß alſo die Bibel zu dieſem Zwecke genuͤgen, da ſie das Muſterbuch zu jenen erſt- genannten geweſen, da das Volk, als deſſen Chronik ſie ſich darſtellt, auf die Weltbegebenheiten ſo großen Einfluß ausgeuͤbt hat und noch ausuͤbt. Es iſt uns nicht erlaubt, hier ins Einzelne zu ge- hen; doch liegt einem Jeden vor Augen, wie in bey-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/172>, abgerufen am 19.04.2024.