Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

das sich nicht schon in den optischen Lectionen fände,
ja in diesen steht manches was in jener ausgelassen
ward, weil es nicht in die künstliche Darstellung paßte,
an welcher Newton dreyßig Jahre gearbeitet hat.

"Die Kunst Versuche zu machen, in einem gewissen
Grade, ist keinesweges gemein. Das geringste Factum,
das sich unsern Augen darbietet, ist aus so viel an-
dern Facten verwickelt, die es zusammensetzen oder be-
dingen, daß man ohne eine außerordentliche Gewandt-
heit nicht alles was darin begriffen ist, entwickeln,
noch ohne vorzüglichen Scharfsinn vermuthen kann,
was alles darin begriffen seyn dürfte. Man muß das
Factum wovon die Rede ist, in soviel andre trennen,
die abermals zusammengesetzt sind, und manchmal,
wenn man seinen Weg nicht gut gewählt hätte, würde
man sich in Irrgänge einlassen, aus welchen man kei-
nen Ausgang fände. Die ursprünglichen und elemen-
taren Facta scheinen von der Natur mit so viel Sorg-
falt wie die Ursachen versteckt worden zu seyn; und
gelangt man endlich dahin sie zu sehen, so ist es ein
ganz neues und überraschendes Schauspiel."

Dieser Periode, der dem Sinne nach allen Bey-
fall verdient, wenn gleich die Art des Ausdrucks viel-
leicht eine nähere Bestimmung erfoderte, paßt auf
Newton nur dem Vorurtheil, keinesweges aber dem
Verdienst nach: denn eben hier liegt der von uns er-
wiesene, von ihm begangene Hauptfehler, daß er das
Phänomen in seine einfachen Elemente nicht zerlegt

das ſich nicht ſchon in den optiſchen Lectionen faͤnde,
ja in dieſen ſteht manches was in jener ausgelaſſen
ward, weil es nicht in die kuͤnſtliche Darſtellung paßte,
an welcher Newton dreyßig Jahre gearbeitet hat.

„Die Kunſt Verſuche zu machen, in einem gewiſſen
Grade, iſt keinesweges gemein. Das geringſte Factum,
das ſich unſern Augen darbietet, iſt aus ſo viel an-
dern Facten verwickelt, die es zuſammenſetzen oder be-
dingen, daß man ohne eine außerordentliche Gewandt-
heit nicht alles was darin begriffen iſt, entwickeln,
noch ohne vorzuͤglichen Scharfſinn vermuthen kann,
was alles darin begriffen ſeyn duͤrfte. Man muß das
Factum wovon die Rede iſt, in ſoviel andre trennen,
die abermals zuſammengeſetzt ſind, und manchmal,
wenn man ſeinen Weg nicht gut gewaͤhlt haͤtte, wuͤrde
man ſich in Irrgaͤnge einlaſſen, aus welchen man kei-
nen Ausgang faͤnde. Die urſpruͤnglichen und elemen-
taren Facta ſcheinen von der Natur mit ſo viel Sorg-
falt wie die Urſachen verſteckt worden zu ſeyn; und
gelangt man endlich dahin ſie zu ſehen, ſo iſt es ein
ganz neues und uͤberraſchendes Schauſpiel.“

Dieſer Periode, der dem Sinne nach allen Bey-
fall verdient, wenn gleich die Art des Ausdrucks viel-
leicht eine naͤhere Beſtimmung erfoderte, paßt auf
Newton nur dem Vorurtheil, keinesweges aber dem
Verdienſt nach: denn eben hier liegt der von uns er-
wieſene, von ihm begangene Hauptfehler, daß er das
Phaͤnomen in ſeine einfachen Elemente nicht zerlegt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0535" n="501"/>
das &#x017F;ich nicht &#x017F;chon in den opti&#x017F;chen Lectionen fa&#x0364;nde,<lb/>
ja in die&#x017F;en &#x017F;teht manches was in jener ausgela&#x017F;&#x017F;en<lb/>
ward, weil es nicht in die ku&#x0364;n&#x017F;tliche Dar&#x017F;tellung paßte,<lb/>
an welcher Newton dreyßig Jahre gearbeitet hat.</p><lb/>
            <p>&#x201E;Die Kun&#x017F;t Ver&#x017F;uche zu machen, in einem gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Grade, i&#x017F;t keinesweges gemein. Das gering&#x017F;te Factum,<lb/>
das &#x017F;ich un&#x017F;ern Augen darbietet, i&#x017F;t aus &#x017F;o viel an-<lb/>
dern Facten verwickelt, die es zu&#x017F;ammen&#x017F;etzen oder be-<lb/>
dingen, daß man ohne eine außerordentliche Gewandt-<lb/>
heit nicht alles was darin begriffen i&#x017F;t, entwickeln,<lb/>
noch ohne vorzu&#x0364;glichen Scharf&#x017F;inn vermuthen kann,<lb/>
was alles darin begriffen &#x017F;eyn du&#x0364;rfte. Man muß das<lb/>
Factum wovon die Rede i&#x017F;t, in &#x017F;oviel andre trennen,<lb/>
die abermals zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzt &#x017F;ind, und manchmal,<lb/>
wenn man &#x017F;einen Weg nicht gut gewa&#x0364;hlt ha&#x0364;tte, wu&#x0364;rde<lb/>
man &#x017F;ich in Irrga&#x0364;nge einla&#x017F;&#x017F;en, aus welchen man kei-<lb/>
nen Ausgang fa&#x0364;nde. Die ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen und elemen-<lb/>
taren Facta &#x017F;cheinen von der Natur mit &#x017F;o viel Sorg-<lb/>
falt wie die Ur&#x017F;achen ver&#x017F;teckt worden zu &#x017F;eyn; und<lb/>
gelangt man endlich dahin &#x017F;ie zu &#x017F;ehen, &#x017F;o i&#x017F;t es ein<lb/>
ganz neues und u&#x0364;berra&#x017F;chendes Schau&#x017F;piel.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;er Periode, der dem Sinne nach allen Bey-<lb/>
fall verdient, wenn gleich die Art des Ausdrucks viel-<lb/>
leicht eine na&#x0364;here Be&#x017F;timmung erfoderte, paßt auf<lb/>
Newton nur dem Vorurtheil, keinesweges aber dem<lb/>
Verdien&#x017F;t nach: denn eben hier liegt der von uns er-<lb/>
wie&#x017F;ene, von ihm begangene Hauptfehler, daß er das<lb/>
Pha&#x0364;nomen in &#x017F;eine einfachen Elemente nicht zerlegt<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[501/0535] das ſich nicht ſchon in den optiſchen Lectionen faͤnde, ja in dieſen ſteht manches was in jener ausgelaſſen ward, weil es nicht in die kuͤnſtliche Darſtellung paßte, an welcher Newton dreyßig Jahre gearbeitet hat. „Die Kunſt Verſuche zu machen, in einem gewiſſen Grade, iſt keinesweges gemein. Das geringſte Factum, das ſich unſern Augen darbietet, iſt aus ſo viel an- dern Facten verwickelt, die es zuſammenſetzen oder be- dingen, daß man ohne eine außerordentliche Gewandt- heit nicht alles was darin begriffen iſt, entwickeln, noch ohne vorzuͤglichen Scharfſinn vermuthen kann, was alles darin begriffen ſeyn duͤrfte. Man muß das Factum wovon die Rede iſt, in ſoviel andre trennen, die abermals zuſammengeſetzt ſind, und manchmal, wenn man ſeinen Weg nicht gut gewaͤhlt haͤtte, wuͤrde man ſich in Irrgaͤnge einlaſſen, aus welchen man kei- nen Ausgang faͤnde. Die urſpruͤnglichen und elemen- taren Facta ſcheinen von der Natur mit ſo viel Sorg- falt wie die Urſachen verſteckt worden zu ſeyn; und gelangt man endlich dahin ſie zu ſehen, ſo iſt es ein ganz neues und uͤberraſchendes Schauſpiel.“ Dieſer Periode, der dem Sinne nach allen Bey- fall verdient, wenn gleich die Art des Ausdrucks viel- leicht eine naͤhere Beſtimmung erfoderte, paßt auf Newton nur dem Vorurtheil, keinesweges aber dem Verdienſt nach: denn eben hier liegt der von uns er- wieſene, von ihm begangene Hauptfehler, daß er das Phaͤnomen in ſeine einfachen Elemente nicht zerlegt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/535
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/535>, abgerufen am 25.04.2024.