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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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senschaften kann der Mensch nicht unterlassen ins Mi-
nutiose zu gehen, theils weil es etwas Reizendes hat,
ein Phänomen ins unendlich Kleine zu verfolgen, theils
weil wir im Praktischen, wenn einmal etwas geleistet
ist, das Vollkommnere zu suchen immer aufgefordert
werden. Beydes kann seinen Nutzen haben; aber der
daraus entspringende Schaden ist nicht weniger merk-
lich. Durch jenes erstgenannte Bemühen wird ein un-
endlicher Wissenswust aufgehäuft und das Würdige mit
dem Unwürdigen, das Werthe mit dem Unwerthen
durcheinander gerüttelt und eins mit dem andern der
Aufmerksamkeit entzogen.

Was die praktischen Forderungen betrifft, so mö-
gen unnütze Bemühungen noch eher hingehen, denn es
springt zuletzt doch manchmal etwas Unerwartetes her-
vor. Aber der, dem es Ernst um die Sache ist, be-
denke doch ja, daß der Mensch in einen Mittelzustand
gesetzt ist, und daß ihm nur erlaubt ist das Mittlere zu
erkennen und zu ergreifen. Der Natur, um ganz zunächst
bey der Materie zu bleiben, von der wir eben handeln,
war es selbst nicht möglich, das Auge ganz achroma-
tisch zu machen. Es ist achromatisch nur in sofern als
wir frey, gerade vor uns hin sehen. Bücken wir den
Kopf nieder, oder heben ihn in die Höhe, und blicken
in dieser gezwungenen Stellung nach irgend einem ent-
schiedenen hellen oder dunklen Bilde, nach einem zu
diesen Erfahrungen immer bereiten Fensterkreuz; so wer-
den wir mit bloßen Augen die prismatischen Säume ge-
wahr. Wie sollte es also der Kunst gelingen, die Na-

ſenſchaften kann der Menſch nicht unterlaſſen ins Mi-
nutioſe zu gehen, theils weil es etwas Reizendes hat,
ein Phaͤnomen ins unendlich Kleine zu verfolgen, theils
weil wir im Praktiſchen, wenn einmal etwas geleiſtet
iſt, das Vollkommnere zu ſuchen immer aufgefordert
werden. Beydes kann ſeinen Nutzen haben; aber der
daraus entſpringende Schaden iſt nicht weniger merk-
lich. Durch jenes erſtgenannte Bemuͤhen wird ein un-
endlicher Wiſſenswuſt aufgehaͤuft und das Wuͤrdige mit
dem Unwuͤrdigen, das Werthe mit dem Unwerthen
durcheinander geruͤttelt und eins mit dem andern der
Aufmerkſamkeit entzogen.

Was die praktiſchen Forderungen betrifft, ſo moͤ-
gen unnuͤtze Bemuͤhungen noch eher hingehen, denn es
ſpringt zuletzt doch manchmal etwas Unerwartetes her-
vor. Aber der, dem es Ernſt um die Sache iſt, be-
denke doch ja, daß der Menſch in einen Mittelzuſtand
geſetzt iſt, und daß ihm nur erlaubt iſt das Mittlere zu
erkennen und zu ergreifen. Der Natur, um ganz zunaͤchſt
bey der Materie zu bleiben, von der wir eben handeln,
war es ſelbſt nicht moͤglich, das Auge ganz achroma-
tiſch zu machen. Es iſt achromatiſch nur in ſofern als
wir frey, gerade vor uns hin ſehen. Buͤcken wir den
Kopf nieder, oder heben ihn in die Hoͤhe, und blicken
in dieſer gezwungenen Stellung nach irgend einem ent-
ſchiedenen hellen oder dunklen Bilde, nach einem zu
dieſen Erfahrungen immer bereiten Fenſterkreuz; ſo wer-
den wir mit bloßen Augen die prismatiſchen Saͤume ge-
wahr. Wie ſollte es alſo der Kunſt gelingen, die Na-

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[664/0698] ſenſchaften kann der Menſch nicht unterlaſſen ins Mi- nutioſe zu gehen, theils weil es etwas Reizendes hat, ein Phaͤnomen ins unendlich Kleine zu verfolgen, theils weil wir im Praktiſchen, wenn einmal etwas geleiſtet iſt, das Vollkommnere zu ſuchen immer aufgefordert werden. Beydes kann ſeinen Nutzen haben; aber der daraus entſpringende Schaden iſt nicht weniger merk- lich. Durch jenes erſtgenannte Bemuͤhen wird ein un- endlicher Wiſſenswuſt aufgehaͤuft und das Wuͤrdige mit dem Unwuͤrdigen, das Werthe mit dem Unwerthen durcheinander geruͤttelt und eins mit dem andern der Aufmerkſamkeit entzogen. Was die praktiſchen Forderungen betrifft, ſo moͤ- gen unnuͤtze Bemuͤhungen noch eher hingehen, denn es ſpringt zuletzt doch manchmal etwas Unerwartetes her- vor. Aber der, dem es Ernſt um die Sache iſt, be- denke doch ja, daß der Menſch in einen Mittelzuſtand geſetzt iſt, und daß ihm nur erlaubt iſt das Mittlere zu erkennen und zu ergreifen. Der Natur, um ganz zunaͤchſt bey der Materie zu bleiben, von der wir eben handeln, war es ſelbſt nicht moͤglich, das Auge ganz achroma- tiſch zu machen. Es iſt achromatiſch nur in ſofern als wir frey, gerade vor uns hin ſehen. Buͤcken wir den Kopf nieder, oder heben ihn in die Hoͤhe, und blicken in dieſer gezwungenen Stellung nach irgend einem ent- ſchiedenen hellen oder dunklen Bilde, nach einem zu dieſen Erfahrungen immer bereiten Fenſterkreuz; ſo wer- den wir mit bloßen Augen die prismatiſchen Saͤume ge- wahr. Wie ſollte es alſo der Kunſt gelingen, die Na-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 664. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/698>, abgerufen am 28.03.2024.