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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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konnte. Sie rührte ihn nicht an wie sonst,
da sie gewöhnlich ihm die Hand drückte, sei¬
ne Wange, seinen Mund, seinen Arm, oder
seine Schulter küßte, sondern ging, nachdem
sie seine Sachen in Ordnung gebracht, still¬
schweigend wieder fort.

Die Zeit einer angesetzten Leseprobe kam
nun herbey, man versammelte sich und alle
waren durch das gestrige Fest verstimmt.
Wilhelm nahm sich zusammen so gut er
konnte, um nicht gleich anfangs gegen seine
so lebhaft gepredigten Grundsätze zu versto¬
ßen. Seine große Übung half ihm durch;
denn Übung und Gewohnheit müssen in je¬
der Kunst die Lücken ausfüllen, welche Genie
und Laune so oft lassen würden.

Eigentlich aber konnte man bey dieser
Gelegenheit die Bemerkung recht wahr fin¬
den, daß man keinen Zustand, der länger
dauern, ja der eigentlich ein Beruf, eine Le¬

konnte. Sie rührte ihn nicht an wie ſonſt,
da ſie gewöhnlich ihm die Hand drückte, ſei¬
ne Wange, ſeinen Mund, ſeinen Arm, oder
ſeine Schulter küßte, ſondern ging, nachdem
ſie ſeine Sachen in Ordnung gebracht, ſtill¬
ſchweigend wieder fort.

Die Zeit einer angeſetzten Leſeprobe kam
nun herbey, man verſammelte ſich und alle
waren durch das geſtrige Feſt verſtimmt.
Wilhelm nahm ſich zuſammen ſo gut er
konnte, um nicht gleich anfangs gegen ſeine
ſo lebhaft gepredigten Grundſätze zu verſto¬
ßen. Seine große Übung half ihm durch;
denn Übung und Gewohnheit müſſen in je¬
der Kunſt die Lücken ausfüllen, welche Genie
und Laune ſo oft laſſen würden.

Eigentlich aber konnte man bey dieſer
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den, daß man keinen Zuſtand, der länger
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[130/0136] konnte. Sie rührte ihn nicht an wie ſonſt, da ſie gewöhnlich ihm die Hand drückte, ſei¬ ne Wange, ſeinen Mund, ſeinen Arm, oder ſeine Schulter küßte, ſondern ging, nachdem ſie ſeine Sachen in Ordnung gebracht, ſtill¬ ſchweigend wieder fort. Die Zeit einer angeſetzten Leſeprobe kam nun herbey, man verſammelte ſich und alle waren durch das geſtrige Feſt verſtimmt. Wilhelm nahm ſich zuſammen ſo gut er konnte, um nicht gleich anfangs gegen ſeine ſo lebhaft gepredigten Grundſätze zu verſto¬ ßen. Seine große Übung half ihm durch; denn Übung und Gewohnheit müſſen in je¬ der Kunſt die Lücken ausfüllen, welche Genie und Laune ſo oft laſſen würden. Eigentlich aber konnte man bey dieſer Gelegenheit die Bemerkung recht wahr fin¬ den, daß man keinen Zuſtand, der länger dauern, ja der eigentlich ein Beruf, eine Le¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/136>, abgerufen am 29.03.2024.