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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Ich werde bey keiner solchen Vorlesung
gegenwärtig seyn, sagte sie, denn wie soll
ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz
zerrissen ist. Ich hasse die französische Spra¬
che von ganzer Seele.

Wie kann man einer Sprache feind seyn?
rief Wilhelm aus, der man den größten
Theil seiner Bildung schuldig ist, und der
wir noch viel schuldig werden müssen, ehe
unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann.

Es ist kein Vorurtheil! versetzte Aurelie,
ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬
innerung an meinen treulosen Freund hat
mir die Lust an dieser schönen und ausgebil¬
deten Sprache geraubt. Wie ich sie jetzt
von ganzem Herzen hasse! Während der
Zeit unserer freundschaftlichen Verbindung
schrieb er deutsch, und welch ein herzliches,
wahres, kräftiges Deutsch! nun da er mich
los seyn wollte, fing er an französisch zu

Ich werde bey keiner ſolchen Vorleſung
gegenwärtig ſeyn, ſagte ſie, denn wie ſoll
ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz
zerriſſen iſt. Ich haſſe die franzöſiſche Spra¬
che von ganzer Seele.

Wie kann man einer Sprache feind ſeyn?
rief Wilhelm aus, der man den größten
Theil ſeiner Bildung ſchuldig iſt, und der
wir noch viel ſchuldig werden müſſen, ehe
unſer Weſen eine Geſtalt gewinnen kann.

Es iſt kein Vorurtheil! verſetzte Aurelie,
ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬
innerung an meinen treuloſen Freund hat
mir die Luſt an dieſer ſchönen und ausgebil¬
deten Sprache geraubt. Wie ich ſie jetzt
von ganzem Herzen haſſe! Während der
Zeit unſerer freundſchaftlichen Verbindung
ſchrieb er deutſch, und welch ein herzliches,
wahres, kräftiges Deutſch! nun da er mich
los ſeyn wollte, fing er an franzöſiſch zu

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[165/0171] Ich werde bey keiner ſolchen Vorleſung gegenwärtig ſeyn, ſagte ſie, denn wie ſoll ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz zerriſſen iſt. Ich haſſe die franzöſiſche Spra¬ che von ganzer Seele. Wie kann man einer Sprache feind ſeyn? rief Wilhelm aus, der man den größten Theil ſeiner Bildung ſchuldig iſt, und der wir noch viel ſchuldig werden müſſen, ehe unſer Weſen eine Geſtalt gewinnen kann. Es iſt kein Vorurtheil! verſetzte Aurelie, ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬ innerung an meinen treuloſen Freund hat mir die Luſt an dieſer ſchönen und ausgebil¬ deten Sprache geraubt. Wie ich ſie jetzt von ganzem Herzen haſſe! Während der Zeit unſerer freundſchaftlichen Verbindung ſchrieb er deutſch, und welch ein herzliches, wahres, kräftiges Deutſch! nun da er mich los ſeyn wollte, fing er an franzöſiſch zu

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/171>, abgerufen am 19.04.2024.