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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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ihr gegen die übrigen zu ärmlich geklei¬
det schien, und sie that das auf eine so
neckische, geschickte Weise, daß Niemand eine
solche Gabe ablehnen konnte. Einer von
ihrem Hofstaat hatte stets eine Börse und
den Auftrag, in den Orten wo sie einkehrten,
sich nach den Aeltesten und Kränksten zu erkun¬
digen, und ihren Zustand wenigstens für den
Augenblick zu erleichtern. Dadurch entstand
ihr in der ganzen Gegend ein Name von
Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manch¬
mal unbequem ward, weil er allzuviel lästige
Nothleidende an sie heranzog.

Durch nichts aber vermehrte sie so sehr ih¬
ren Ruf, als durch ein auffallendes gutes be¬
harrliches Benehmen gegen einen unglücklichen
jungen Mann, der die Gesellschaft floh, weil
er, übrigens schön und wohlgebildet, seine
rechte Hand, obgleich rühmlich, in der Schlacht
verloren hatte. Diese Verstümmlung erregte
ihm einen solchen Mißmuth; es war ihm so

ihr gegen die uͤbrigen zu aͤrmlich geklei¬
det ſchien, und ſie that das auf eine ſo
neckiſche, geſchickte Weiſe, daß Niemand eine
ſolche Gabe ablehnen konnte. Einer von
ihrem Hofſtaat hatte ſtets eine Boͤrſe und
den Auftrag, in den Orten wo ſie einkehrten,
ſich nach den Aelteſten und Kraͤnkſten zu erkun¬
digen, und ihren Zuſtand wenigſtens fuͤr den
Augenblick zu erleichtern. Dadurch entſtand
ihr in der ganzen Gegend ein Name von
Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manch¬
mal unbequem ward, weil er allzuviel laͤſtige
Nothleidende an ſie heranzog.

Durch nichts aber vermehrte ſie ſo ſehr ih¬
ren Ruf, als durch ein auffallendes gutes be¬
harrliches Benehmen gegen einen ungluͤcklichen
jungen Mann, der die Geſellſchaft floh, weil
er, uͤbrigens ſchoͤn und wohlgebildet, ſeine
rechte Hand, obgleich ruͤhmlich, in der Schlacht
verloren hatte. Dieſe Verſtuͤmmlung erregte
ihm einen ſolchen Mißmuth; es war ihm ſo

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[72/0075] ihr gegen die uͤbrigen zu aͤrmlich geklei¬ det ſchien, und ſie that das auf eine ſo neckiſche, geſchickte Weiſe, daß Niemand eine ſolche Gabe ablehnen konnte. Einer von ihrem Hofſtaat hatte ſtets eine Boͤrſe und den Auftrag, in den Orten wo ſie einkehrten, ſich nach den Aelteſten und Kraͤnkſten zu erkun¬ digen, und ihren Zuſtand wenigſtens fuͤr den Augenblick zu erleichtern. Dadurch entſtand ihr in der ganzen Gegend ein Name von Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manch¬ mal unbequem ward, weil er allzuviel laͤſtige Nothleidende an ſie heranzog. Durch nichts aber vermehrte ſie ſo ſehr ih¬ ren Ruf, als durch ein auffallendes gutes be¬ harrliches Benehmen gegen einen ungluͤcklichen jungen Mann, der die Geſellſchaft floh, weil er, uͤbrigens ſchoͤn und wohlgebildet, ſeine rechte Hand, obgleich ruͤhmlich, in der Schlacht verloren hatte. Dieſe Verſtuͤmmlung erregte ihm einen ſolchen Mißmuth; es war ihm ſo

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/75>, abgerufen am 29.03.2024.