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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Es ist doch gewiß, daß in der Welt den Men-
schen nichts nothwendig macht als die Liebe.
Jch fühl's an Lotten, daß sie mich ungern verlöh-
re, und die Kinder haben keine andre Jdee, als
daß ich immer morgen wiederkommen würde.
Heut war ich hinausgegangen, Lottens Clavier zu
stimmen, ich konnte aber nicht-dazu kommen, denn
die Kleinen verfolgten mich um ein Mährgen, und
Lotte sagte denn selbst, ich sollte ihnen den Willen
thun. Jch schnitt ihnen das Abendbrod, das sie
nun fast so gerne von mir als von Lotten annah-
men und erzählte ihnen das Hauptstückgen von
der Prinzeßinn, die von Händen bedient wird. Jch
lerne viel dabey, das versichr' ich dich, und ich bin
erstaunt, was es auf sie für Eindrükke macht.
Weil ich manchmal einen Jnzidenzpunkt erfinden
muß, den ich bey'm zweytenmal vergesse, sagen sie
gleich, das vorigemal wär's anders gewest, so daß
ich mich jezt übe, sie unveränderlich in einem sin-

gen-





Es iſt doch gewiß, daß in der Welt den Men-
ſchen nichts nothwendig macht als die Liebe.
Jch fuͤhl’s an Lotten, daß ſie mich ungern verloͤh-
re, und die Kinder haben keine andre Jdee, als
daß ich immer morgen wiederkommen wuͤrde.
Heut war ich hinausgegangen, Lottens Clavier zu
ſtimmen, ich konnte aber nicht-dazu kommen, denn
die Kleinen verfolgten mich um ein Maͤhrgen, und
Lotte ſagte denn ſelbſt, ich ſollte ihnen den Willen
thun. Jch ſchnitt ihnen das Abendbrod, das ſie
nun faſt ſo gerne von mir als von Lotten annah-
men und erzaͤhlte ihnen das Hauptſtuͤckgen von
der Prinzeßinn, die von Haͤnden bedient wird. Jch
lerne viel dabey, das verſichr’ ich dich, und ich bin
erſtaunt, was es auf ſie fuͤr Eindruͤkke macht.
Weil ich manchmal einen Jnzidenzpunkt erfinden
muß, den ich bey’m zweytenmal vergeſſe, ſagen ſie
gleich, das vorigemal waͤr’s anders geweſt, ſo daß
ich mich jezt uͤbe, ſie unveraͤnderlich in einem ſin-

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[90/0090] am 15. Aug. Es iſt doch gewiß, daß in der Welt den Men- ſchen nichts nothwendig macht als die Liebe. Jch fuͤhl’s an Lotten, daß ſie mich ungern verloͤh- re, und die Kinder haben keine andre Jdee, als daß ich immer morgen wiederkommen wuͤrde. Heut war ich hinausgegangen, Lottens Clavier zu ſtimmen, ich konnte aber nicht-dazu kommen, denn die Kleinen verfolgten mich um ein Maͤhrgen, und Lotte ſagte denn ſelbſt, ich ſollte ihnen den Willen thun. Jch ſchnitt ihnen das Abendbrod, das ſie nun faſt ſo gerne von mir als von Lotten annah- men und erzaͤhlte ihnen das Hauptſtuͤckgen von der Prinzeßinn, die von Haͤnden bedient wird. Jch lerne viel dabey, das verſichr’ ich dich, und ich bin erſtaunt, was es auf ſie fuͤr Eindruͤkke macht. Weil ich manchmal einen Jnzidenzpunkt erfinden muß, den ich bey’m zweytenmal vergeſſe, ſagen ſie gleich, das vorigemal waͤr’s anders geweſt, ſo daß ich mich jezt uͤbe, ſie unveraͤnderlich in einem ſin- gen-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/90>, abgerufen am 29.03.2024.