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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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genden Sylbenfall an einem Schnürgen weg zu
rezitiren. Jch habe daraus gelernt wie ein Au-
tor, durch eine zweyte veränderte Auflage seiner
Geschichte, und wenn sie noch so poetisch besser
geworden wäre, nothwendig seinem Buche scha-
den muß. Der erste Eindruk findet uns willig,
und der Mensch ist so gemacht, daß man ihm das
abenteuerlichste überreden kann, das haftet aber
auch gleich so fest, und wehe dem, der es wieder
auskrazzen und austilgen will.




Mußte denn das so seyn? daß das, was des
Menschen Glükseligkeit macht, wieder die
Quelle seines Elends würde.

Das volle warme Gefühl meines Herzens an
der lebendigen Natur, das mich mit so viel Wonne
überströmte, das rings umher die Welt mir zu
einem Paradiese schuf, wird mir jezt zu einem un-

er-



genden Sylbenfall an einem Schnuͤrgen weg zu
rezitiren. Jch habe daraus gelernt wie ein Au-
tor, durch eine zweyte veraͤnderte Auflage ſeiner
Geſchichte, und wenn ſie noch ſo poetiſch beſſer
geworden waͤre, nothwendig ſeinem Buche ſcha-
den muß. Der erſte Eindruk findet uns willig,
und der Menſch iſt ſo gemacht, daß man ihm das
abenteuerlichſte uͤberreden kann, das haftet aber
auch gleich ſo feſt, und wehe dem, der es wieder
auskrazzen und austilgen will.




Mußte denn das ſo ſeyn? daß das, was des
Menſchen Gluͤkſeligkeit macht, wieder die
Quelle ſeines Elends wuͤrde.

Das volle warme Gefuͤhl meines Herzens an
der lebendigen Natur, das mich mit ſo viel Wonne
uͤberſtroͤmte, das rings umher die Welt mir zu
einem Paradieſe ſchuf, wird mir jezt zu einem un-

er-
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[91/0091] genden Sylbenfall an einem Schnuͤrgen weg zu rezitiren. Jch habe daraus gelernt wie ein Au- tor, durch eine zweyte veraͤnderte Auflage ſeiner Geſchichte, und wenn ſie noch ſo poetiſch beſſer geworden waͤre, nothwendig ſeinem Buche ſcha- den muß. Der erſte Eindruk findet uns willig, und der Menſch iſt ſo gemacht, daß man ihm das abenteuerlichſte uͤberreden kann, das haftet aber auch gleich ſo feſt, und wehe dem, der es wieder auskrazzen und austilgen will. am 18. Aug. Mußte denn das ſo ſeyn? daß das, was des Menſchen Gluͤkſeligkeit macht, wieder die Quelle ſeines Elends wuͤrde. Das volle warme Gefuͤhl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit ſo viel Wonne uͤberſtroͤmte, das rings umher die Welt mir zu einem Paradieſe ſchuf, wird mir jezt zu einem un- er-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/91>, abgerufen am 28.03.2024.