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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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geht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da sizze.
Da kommen denn die Mädgen aus der Stadt
und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und
das nöthigste, das ehmals die Töchter der Könige
selbst verrichteten. Wenn ich da sizze, so lebt die
patriarchalische Jdee so lebhaft um mich, wie sie
alle die Altväter am Brunnen Bekanntschaft ma-
chen und freyen, und wie um die Brunnen und
Quellen wohlthätige Geister schweben. O der
muß nie nach einer schweren Sommerlagswanderung
sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das
nicht mit empfinden kann.




Du fragst, ob Du mir meine Bücher schikken
sollst? Lieber, ich bitte dich um Gottes wil-
len, laß mir sie vom Hals. Jch will nicht mehr
geleitet, ermuntert, angefeuret seyn, braust die-
ses Herz doch genug aus sich selbst, ich brauche
Wiegengesang, und den hab ich in seiner Fülle ge-
funden in meinem Homer. Wie oft lull ich mein
empörendes Blut zur Ruhe, denn so ungleich, so

unstet



geht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da ſizze.
Da kommen denn die Maͤdgen aus der Stadt
und holen Waſſer, das harmloſeſte Geſchaͤft und
das noͤthigſte, das ehmals die Toͤchter der Koͤnige
ſelbſt verrichteten. Wenn ich da ſizze, ſo lebt die
patriarchaliſche Jdee ſo lebhaft um mich, wie ſie
alle die Altvaͤter am Brunnen Bekanntſchaft ma-
chen und freyen, und wie um die Brunnen und
Quellen wohlthaͤtige Geiſter ſchweben. O der
muß nie nach einer ſchweren Sommerlagswanderung
ſich an des Brunnens Kuͤhle gelabt haben, der das
nicht mit empfinden kann.




Du fragſt, ob Du mir meine Buͤcher ſchikken
ſollſt? Lieber, ich bitte dich um Gottes wil-
len, laß mir ſie vom Hals. Jch will nicht mehr
geleitet, ermuntert, angefeuret ſeyn, brauſt die-
ſes Herz doch genug aus ſich ſelbſt, ich brauche
Wiegengeſang, und den hab ich in ſeiner Fuͤlle ge-
funden in meinem Homer. Wie oft lull ich mein
empoͤrendes Blut zur Ruhe, denn ſo ungleich, ſo

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[11/0011] geht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da ſizze. Da kommen denn die Maͤdgen aus der Stadt und holen Waſſer, das harmloſeſte Geſchaͤft und das noͤthigſte, das ehmals die Toͤchter der Koͤnige ſelbſt verrichteten. Wenn ich da ſizze, ſo lebt die patriarchaliſche Jdee ſo lebhaft um mich, wie ſie alle die Altvaͤter am Brunnen Bekanntſchaft ma- chen und freyen, und wie um die Brunnen und Quellen wohlthaͤtige Geiſter ſchweben. O der muß nie nach einer ſchweren Sommerlagswanderung ſich an des Brunnens Kuͤhle gelabt haben, der das nicht mit empfinden kann. am 13. May. Du fragſt, ob Du mir meine Buͤcher ſchikken ſollſt? Lieber, ich bitte dich um Gottes wil- len, laß mir ſie vom Hals. Jch will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuret ſeyn, brauſt die- ſes Herz doch genug aus ſich ſelbſt, ich brauche Wiegengeſang, und den hab ich in ſeiner Fuͤlle ge- funden in meinem Homer. Wie oft lull ich mein empoͤrendes Blut zur Ruhe, denn ſo ungleich, ſo unſtet

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/11>, abgerufen am 28.03.2024.