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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Papier das einhauchen, was so voll, so warm in
dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele,
wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen
Gottes. Mein Freund -- Aber ich gehe dar-
über zu Grunde, ich erliege unter der Gewalt der
Herrlichkeit dieser Erscheinungen.




Jch weis nicht, ob so täuschende Geister
um diese Gegend schweben, oder ob die
warme himmlische Phantasie in meinem Her-
zen ist, die mir alles rings umher so paradisisch
macht. Da ist gleich vor dem Orte ein Brunn',
ein Brunn', an den ich gebannt bin wie Melusine
mit ihren Schwestern. Du gehst einen kleinen
Hügel hinunter, und sindest dich vor einem Ge-
wölbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo
unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt.
Das Mäuergen, das oben umher die Einfassung
macht, die hohen Bäume, die den Platz rings um-
her bedecken, die Kühle des Orts, das hat alles
so was anzügliches, was schauerliches. Es ver-

geht



Papier das einhauchen, was ſo voll, ſo warm in
dir lebt, daß es wuͤrde der Spiegel deiner Seele,
wie deine Seele iſt der Spiegel des unendlichen
Gottes. Mein Freund — Aber ich gehe dar-
uͤber zu Grunde, ich erliege unter der Gewalt der
Herrlichkeit dieſer Erſcheinungen.




Jch weis nicht, ob ſo taͤuſchende Geiſter
um dieſe Gegend ſchweben, oder ob die
warme himmliſche Phantaſie in meinem Her-
zen iſt, die mir alles rings umher ſo paradiſiſch
macht. Da iſt gleich vor dem Orte ein Brunn’,
ein Brunn’, an den ich gebannt bin wie Meluſine
mit ihren Schweſtern. Du gehſt einen kleinen
Huͤgel hinunter, und ſindeſt dich vor einem Ge-
woͤlbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo
unten das klarſte Waſſer aus Marmorfelſen quillt.
Das Maͤuergen, das oben umher die Einfaſſung
macht, die hohen Baͤume, die den Platz rings um-
her bedecken, die Kuͤhle des Orts, das hat alles
ſo was anzuͤgliches, was ſchauerliches. Es ver-

geht
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[10/0010] Papier das einhauchen, was ſo voll, ſo warm in dir lebt, daß es wuͤrde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele iſt der Spiegel des unendlichen Gottes. Mein Freund — Aber ich gehe dar- uͤber zu Grunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieſer Erſcheinungen. am 12. May. Jch weis nicht, ob ſo taͤuſchende Geiſter um dieſe Gegend ſchweben, oder ob die warme himmliſche Phantaſie in meinem Her- zen iſt, die mir alles rings umher ſo paradiſiſch macht. Da iſt gleich vor dem Orte ein Brunn’, ein Brunn’, an den ich gebannt bin wie Meluſine mit ihren Schweſtern. Du gehſt einen kleinen Huͤgel hinunter, und ſindeſt dich vor einem Ge- woͤlbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo unten das klarſte Waſſer aus Marmorfelſen quillt. Das Maͤuergen, das oben umher die Einfaſſung macht, die hohen Baͤume, die den Platz rings um- her bedecken, die Kuͤhle des Orts, das hat alles ſo was anzuͤgliches, was ſchauerliches. Es ver- geht

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/10>, abgerufen am 24.04.2024.