Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



stand auf der Terasse unter den hohen Castanien-
bäumen, und sah der Sonne nach, die mir nun
zum letztenmal über dem lieblichen Thale, über
dem sanften Flusse untergieng. So oft hatte ich
hier gestanden mit ihr, und eben dem herrlichen
Schauspiele zugesehen und nun -- Jch gieng in
der Allee auf und ab, die mir so lieb war, ein
geheimer sympathetischer Zug hatte mich hier so oft
gehalten, eh ich noch Lotten kannte, und wie freu-
ten wir uns, als im Anfange unserer Bekannt-
schaft wir die wechselseitige Neigung zu dem Pläz-
gen entdekten, das wahrhaftig eins der roman-
tischten ist, die ich von der Kunst habe hervorge-
bracht gesehen.

Erst hast du zwischen den Castanienbäumen die
weite Aussicht -- Ach ich erinnere mich, ich ha-
be dir, denk ich, schon viel geschrieben davon, wie
hohe Buchenwände einen endlich einschliessen und
durch ein daran stoßendes Bosquet die Allee im-
mer düstrer wird, bis zuletzt alles sich in ein ge-
schlossenes Pläzgen endigt, das alle Schauer der

Ein-



ſtand auf der Teraſſe unter den hohen Caſtanien-
baͤumen, und ſah der Sonne nach, die mir nun
zum letztenmal uͤber dem lieblichen Thale, uͤber
dem ſanften Fluſſe untergieng. So oft hatte ich
hier geſtanden mit ihr, und eben dem herrlichen
Schauſpiele zugeſehen und nun — Jch gieng in
der Allee auf und ab, die mir ſo lieb war, ein
geheimer ſympathetiſcher Zug hatte mich hier ſo oft
gehalten, eh ich noch Lotten kannte, und wie freu-
ten wir uns, als im Anfange unſerer Bekannt-
ſchaft wir die wechſelſeitige Neigung zu dem Plaͤz-
gen entdekten, das wahrhaftig eins der roman-
tiſchten iſt, die ich von der Kunſt habe hervorge-
bracht geſehen.

Erſt haſt du zwiſchen den Caſtanienbaͤumen die
weite Ausſicht — Ach ich erinnere mich, ich ha-
be dir, denk ich, ſchon viel geſchrieben davon, wie
hohe Buchenwaͤnde einen endlich einſchlieſſen und
durch ein daran ſtoßendes Bosquet die Allee im-
mer duͤſtrer wird, bis zuletzt alles ſich in ein ge-
ſchloſſenes Plaͤzgen endigt, das alle Schauer der

Ein-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <p><pb facs="#f0104" n="104"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x017F;tand auf der Tera&#x017F;&#x017F;e unter den hohen  Ca&#x017F;tanien-<lb/>
ba&#x0364;umen, und &#x017F;ah der Sonne nach, die mir nun<lb/>
zum letztenmal u&#x0364;ber dem lieblichen Thale, u&#x0364;ber<lb/>
dem &#x017F;anften Flu&#x017F;&#x017F;e untergieng. So oft hatte ich<lb/>
hier ge&#x017F;tanden mit ihr, und eben dem herrlichen<lb/>
Schau&#x017F;piele zuge&#x017F;ehen und nun &#x2014; Jch gieng in<lb/>
der Allee auf und ab, die mir &#x017F;o lieb war, ein<lb/>
geheimer &#x017F;ympatheti&#x017F;cher Zug hatte mich hier &#x017F;o oft<lb/>
gehalten, eh ich noch Lotten kannte, und wie freu-<lb/>
ten wir uns, als im Anfange un&#x017F;erer Bekannt-<lb/>
&#x017F;chaft wir die wech&#x017F;el&#x017F;eitige Neigung zu dem Pla&#x0364;z-<lb/>
gen entdekten, das wahrhaftig eins der roman-<lb/>
ti&#x017F;chten i&#x017F;t, die ich von der Kun&#x017F;t habe hervorge-<lb/>
bracht ge&#x017F;ehen.</p><lb/>
        <p>Er&#x017F;t ha&#x017F;t du zwi&#x017F;chen den Ca&#x017F;tanienba&#x0364;umen die<lb/>
weite Aus&#x017F;icht &#x2014; Ach ich erinnere mich, ich ha-<lb/>
be dir, denk ich, &#x017F;chon viel ge&#x017F;chrieben davon, wie<lb/>
hohe Buchenwa&#x0364;nde einen endlich ein&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en und<lb/>
durch ein daran &#x017F;toßendes Bosquet die Allee im-<lb/>
mer du&#x0364;&#x017F;trer wird, bis zuletzt alles &#x017F;ich in ein ge-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enes Pla&#x0364;zgen endigt, das alle Schauer der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ein-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0104] ſtand auf der Teraſſe unter den hohen Caſtanien- baͤumen, und ſah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmal uͤber dem lieblichen Thale, uͤber dem ſanften Fluſſe untergieng. So oft hatte ich hier geſtanden mit ihr, und eben dem herrlichen Schauſpiele zugeſehen und nun — Jch gieng in der Allee auf und ab, die mir ſo lieb war, ein geheimer ſympathetiſcher Zug hatte mich hier ſo oft gehalten, eh ich noch Lotten kannte, und wie freu- ten wir uns, als im Anfange unſerer Bekannt- ſchaft wir die wechſelſeitige Neigung zu dem Plaͤz- gen entdekten, das wahrhaftig eins der roman- tiſchten iſt, die ich von der Kunſt habe hervorge- bracht geſehen. Erſt haſt du zwiſchen den Caſtanienbaͤumen die weite Ausſicht — Ach ich erinnere mich, ich ha- be dir, denk ich, ſchon viel geſchrieben davon, wie hohe Buchenwaͤnde einen endlich einſchlieſſen und durch ein daran ſtoßendes Bosquet die Allee im- mer duͤſtrer wird, bis zuletzt alles ſich in ein ge- ſchloſſenes Plaͤzgen endigt, das alle Schauer der Ein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/104
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/104>, abgerufen am 25.04.2024.