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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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te mich auf ihre Hand und küßte sie unter den
wonnevollesten Thränen. Und sah nach ihrem
Auge wieder -- Edler! hättest du deine Vergöt-
terung in diesem Blikke gesehn, und möcht ich nun
deinen so oft entweihten Nahmen nie wieder
nennen hören!




Wo ich neulich mit meiner Erzählung geblieben
bin, weis ich nicht mehr, das weis ich, daß
es zwey Uhr des Nachts war, als ich zu Bette
kam, und daß, wenn ich dir hätte vorschwäzzen kön-
nen, statt zu schreiben, ich dich vielleicht bis an
Tag aufgehalten hätte.

Was auf unserer Hereinfahrt vom Balle pas-
sirt ist, hab ich noch nicht erzählt, hab auch heute
keinen Tag dazu.

Es war der liebwürdigste Sonnenaufgang.
Der tröpfelnde Wald und das erfrischte Feld um-
her! Unsere Gesellschafterinnen nikten ein. Sie
fragte mich, ob ich nicht auch von der Parthie seyn
wollte, ihrentwegen sollt ich unbekümmert seyn.
So lang ich diese Augen offen sehe, sagt' ich, und

sah



te mich auf ihre Hand und kuͤßte ſie unter den
wonnevolleſten Thraͤnen. Und ſah nach ihrem
Auge wieder — Edler! haͤtteſt du deine Vergoͤt-
terung in dieſem Blikke geſehn, und moͤcht ich nun
deinen ſo oft entweihten Nahmen nie wieder
nennen hoͤren!




Wo ich neulich mit meiner Erzaͤhlung geblieben
bin, weis ich nicht mehr, das weis ich, daß
es zwey Uhr des Nachts war, als ich zu Bette
kam, und daß, wenn ich dir haͤtte vorſchwaͤzzen koͤn-
nen, ſtatt zu ſchreiben, ich dich vielleicht bis an
Tag aufgehalten haͤtte.

Was auf unſerer Hereinfahrt vom Balle paſ-
ſirt iſt, hab ich noch nicht erzaͤhlt, hab auch heute
keinen Tag dazu.

Es war der liebwuͤrdigſte Sonnenaufgang.
Der troͤpfelnde Wald und das erfriſchte Feld um-
her! Unſere Geſellſchafterinnen nikten ein. Sie
fragte mich, ob ich nicht auch von der Parthie ſeyn
wollte, ihrentwegen ſollt ich unbekuͤmmert ſeyn.
So lang ich dieſe Augen offen ſehe, ſagt’ ich, und

ſah
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[44/0044] te mich auf ihre Hand und kuͤßte ſie unter den wonnevolleſten Thraͤnen. Und ſah nach ihrem Auge wieder — Edler! haͤtteſt du deine Vergoͤt- terung in dieſem Blikke geſehn, und moͤcht ich nun deinen ſo oft entweihten Nahmen nie wieder nennen hoͤren! am 19 Juny. Wo ich neulich mit meiner Erzaͤhlung geblieben bin, weis ich nicht mehr, das weis ich, daß es zwey Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und daß, wenn ich dir haͤtte vorſchwaͤzzen koͤn- nen, ſtatt zu ſchreiben, ich dich vielleicht bis an Tag aufgehalten haͤtte. Was auf unſerer Hereinfahrt vom Balle paſ- ſirt iſt, hab ich noch nicht erzaͤhlt, hab auch heute keinen Tag dazu. Es war der liebwuͤrdigſte Sonnenaufgang. Der troͤpfelnde Wald und das erfriſchte Feld um- her! Unſere Geſellſchafterinnen nikten ein. Sie fragte mich, ob ich nicht auch von der Parthie ſeyn wollte, ihrentwegen ſollt ich unbekuͤmmert ſeyn. So lang ich dieſe Augen offen ſehe, ſagt’ ich, und ſah

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/44>, abgerufen am 28.03.2024.