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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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dem Vorübergehn dich manchmal nicht angesehn.
Jch blikte hinab und sah, daß Malgen mit einem
Glase Wasser sehr beschäftigt heraufstieg. Jch sahe
Lotten an und fühlte alles, was ich an ihr habe.
Jndem so kommt Malgen mit einem Glase, Ma-
rianne wollt es ihr abnehmen, nein! rufte das
Kind mit dem süßten Ausdrukke: nein, Lottgen, du
sollst zuerst trinken! Jch ward über die Wahrheit,
die Güte, womit sie das ausrief, so entzükt, daß
ich meine Empfindung mit nichts ausdrukken konnte,
als ich nahm das Kind von der Erde und küßte es
lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen an-
fieng. Sie haben übel gethan, sagte Lotte! Jch
war betroffen. Komm Malgen, fuhr sie fort, in-
dem sie es an der Hand nahm und die Stufen
hinabführte; da wasche dich aus der frischen Quelle
geschwind, geschwind, da thut's nichts. Wie ich
so da stund und zusah, mit welcher Emsigkeit das
Kleine mit seinen nassen Händgen die Bakken rieb,
mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle
alle Verunreinigung abgespült, und die Schmach
abgethan würde, einen häslichen Bart zu kriegen.
Wie Lotte sagte, es ist genug, und das Kind doch

immer



dem Voruͤbergehn dich manchmal nicht angeſehn.
Jch blikte hinab und ſah, daß Malgen mit einem
Glaſe Waſſer ſehr beſchaͤftigt heraufſtieg. Jch ſahe
Lotten an und fuͤhlte alles, was ich an ihr habe.
Jndem ſo kommt Malgen mit einem Glaſe, Ma-
rianne wollt es ihr abnehmen, nein! rufte das
Kind mit dem ſuͤßten Ausdrukke: nein, Lottgen, du
ſollſt zuerſt trinken! Jch ward uͤber die Wahrheit,
die Guͤte, womit ſie das ausrief, ſo entzuͤkt, daß
ich meine Empfindung mit nichts ausdrukken konnte,
als ich nahm das Kind von der Erde und kuͤßte es
lebhaft, das ſogleich zu ſchreien und zu weinen an-
fieng. Sie haben uͤbel gethan, ſagte Lotte! Jch
war betroffen. Komm Malgen, fuhr ſie fort, in-
dem ſie es an der Hand nahm und die Stufen
hinabfuͤhrte; da waſche dich aus der friſchen Quelle
geſchwind, geſchwind, da thut’s nichts. Wie ich
ſo da ſtund und zuſah, mit welcher Emſigkeit das
Kleine mit ſeinen naſſen Haͤndgen die Bakken rieb,
mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle
alle Verunreinigung abgeſpuͤlt, und die Schmach
abgethan wuͤrde, einen haͤslichen Bart zu kriegen.
Wie Lotte ſagte, es iſt genug, und das Kind doch

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[60/0060] dem Voruͤbergehn dich manchmal nicht angeſehn. Jch blikte hinab und ſah, daß Malgen mit einem Glaſe Waſſer ſehr beſchaͤftigt heraufſtieg. Jch ſahe Lotten an und fuͤhlte alles, was ich an ihr habe. Jndem ſo kommt Malgen mit einem Glaſe, Ma- rianne wollt es ihr abnehmen, nein! rufte das Kind mit dem ſuͤßten Ausdrukke: nein, Lottgen, du ſollſt zuerſt trinken! Jch ward uͤber die Wahrheit, die Guͤte, womit ſie das ausrief, ſo entzuͤkt, daß ich meine Empfindung mit nichts ausdrukken konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und kuͤßte es lebhaft, das ſogleich zu ſchreien und zu weinen an- fieng. Sie haben uͤbel gethan, ſagte Lotte! Jch war betroffen. Komm Malgen, fuhr ſie fort, in- dem ſie es an der Hand nahm und die Stufen hinabfuͤhrte; da waſche dich aus der friſchen Quelle geſchwind, geſchwind, da thut’s nichts. Wie ich ſo da ſtund und zuſah, mit welcher Emſigkeit das Kleine mit ſeinen naſſen Haͤndgen die Bakken rieb, mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgeſpuͤlt, und die Schmach abgethan wuͤrde, einen haͤslichen Bart zu kriegen. Wie Lotte ſagte, es iſt genug, und das Kind doch immer

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/60>, abgerufen am 28.03.2024.