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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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einen Augenblik! Wenn ich mich so in Träumen
verliehre, kann ich mich des Gedankens nicht er-
wehren: Wie, wenn Albert stürbe! Du würdest!
ja sie würde -- und dann lauf ich dem Hirnge-
spinste nach, bis es mich an Abgründe führt, vor
denen ich zurükbebe.

Wenn ich so dem Thore hinaus gehe, den Weg
den ich zum erstenmal fuhr, Lotten zum Tanze zu
holen, wie war das all so anders! Alles, alles ist
vorüber gegangen! Kein Wink der vorigen Welt,
kein Pulsschlag meines damaligen Gefühls. Mir
ist's, wie's einem Geiste seyn müßte, der in das
versengte verstörte Schloß zurükkehrte, das er als
blühender Fürst einst gebaut und mit allen Gaben
der Herrlichkeit ausgestattet, sterbend seinem ge-
liebten Sohne hoffnungsvoll hinterlassen.




Jch begreife manchmal nicht, wie sie ein ande-
rer lieb haben kann, lieb haben darf, da ich
sie so ganz allein, so innig, so voll liebe, nichts
anders kenne, noch weis, noch habe als sie.

am
K 2



einen Augenblik! Wenn ich mich ſo in Traͤumen
verliehre, kann ich mich des Gedankens nicht er-
wehren: Wie, wenn Albert ſtuͤrbe! Du wuͤrdeſt!
ja ſie wuͤrde — und dann lauf ich dem Hirnge-
ſpinſte nach, bis es mich an Abgruͤnde fuͤhrt, vor
denen ich zuruͤkbebe.

Wenn ich ſo dem Thore hinaus gehe, den Weg
den ich zum erſtenmal fuhr, Lotten zum Tanze zu
holen, wie war das all ſo anders! Alles, alles iſt
voruͤber gegangen! Kein Wink der vorigen Welt,
kein Pulsſchlag meines damaligen Gefuͤhls. Mir
iſt’s, wie’s einem Geiſte ſeyn muͤßte, der in das
verſengte verſtoͤrte Schloß zuruͤkkehrte, das er als
bluͤhender Fuͤrſt einſt gebaut und mit allen Gaben
der Herrlichkeit ausgeſtattet, ſterbend ſeinem ge-
liebten Sohne hoffnungsvoll hinterlaſſen.




Jch begreife manchmal nicht, wie ſie ein ande-
rer lieb haben kann, lieb haben darf, da ich
ſie ſo ganz allein, ſo innig, ſo voll liebe, nichts
anders kenne, noch weis, noch habe als ſie.

am
K 2
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[147/0035] einen Augenblik! Wenn ich mich ſo in Traͤumen verliehre, kann ich mich des Gedankens nicht er- wehren: Wie, wenn Albert ſtuͤrbe! Du wuͤrdeſt! ja ſie wuͤrde — und dann lauf ich dem Hirnge- ſpinſte nach, bis es mich an Abgruͤnde fuͤhrt, vor denen ich zuruͤkbebe. Wenn ich ſo dem Thore hinaus gehe, den Weg den ich zum erſtenmal fuhr, Lotten zum Tanze zu holen, wie war das all ſo anders! Alles, alles iſt voruͤber gegangen! Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulsſchlag meines damaligen Gefuͤhls. Mir iſt’s, wie’s einem Geiſte ſeyn muͤßte, der in das verſengte verſtoͤrte Schloß zuruͤkkehrte, das er als bluͤhender Fuͤrſt einſt gebaut und mit allen Gaben der Herrlichkeit ausgeſtattet, ſterbend ſeinem ge- liebten Sohne hoffnungsvoll hinterlaſſen. am 3. September. Jch begreife manchmal nicht, wie ſie ein ande- rer lieb haben kann, lieb haben darf, da ich ſie ſo ganz allein, ſo innig, ſo voll liebe, nichts anders kenne, noch weis, noch habe als ſie. am K 2

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/35>, abgerufen am 28.03.2024.