Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



Gottes Willen, sagt ich mit einem heftigen Aus-
bruch hin gegen sie fahrend, um Gottes Willen hö-
ren sie auf. Sie hielt, und sah mich starr an.
Werther, sagte sie, mit einem Lächlen, das mir
durch die Seele gieng, Werther, sie sind sehr krank,
ihre Lieblingsgerichte widerstehen ihnen. Gehen
sie! Jch bitte sie, beruhigen sie sich. Jch riß
mich von ihr weg, und -- Gott! du siehst mein
Elend, und wirst es enden.




Wie mich die Gestalt verfolgt. Wachend und
träumend füllt sie meine ganze Seele.
Hier, wenn ich die Augen schliesse, hier in mei-
ner Stirne, wo die innere Sehkraft sich verei-
nigt, stehen ihre schwarzen Augen. Hier! Jch
kann dir's nicht ausdrükken. Mach ich meine Au-
gen zu, so sind sie da, wie ein Meer, wie ein
Abgrund ruhen sie vor mir, in mir, füllen die
Sinnen meiner Stirne.

Was ist der Mensch? der gepriesene Halb-
gott! Ermangeln ihm nicht da eben, die Kräfte

wo



Gottes Willen, ſagt ich mit einem heftigen Aus-
bruch hin gegen ſie fahrend, um Gottes Willen hoͤ-
ren ſie auf. Sie hielt, und ſah mich ſtarr an.
Werther, ſagte ſie, mit einem Laͤchlen, das mir
durch die Seele gieng, Werther, ſie ſind ſehr krank,
ihre Lieblingsgerichte widerſtehen ihnen. Gehen
ſie! Jch bitte ſie, beruhigen ſie ſich. Jch riß
mich von ihr weg, und — Gott! du ſiehſt mein
Elend, und wirſt es enden.




Wie mich die Geſtalt verfolgt. Wachend und
traͤumend fuͤllt ſie meine ganze Seele.
Hier, wenn ich die Augen ſchlieſſe, hier in mei-
ner Stirne, wo die innere Sehkraft ſich verei-
nigt, ſtehen ihre ſchwarzen Augen. Hier! Jch
kann dir’s nicht ausdruͤkken. Mach ich meine Au-
gen zu, ſo ſind ſie da, wie ein Meer, wie ein
Abgrund ruhen ſie vor mir, in mir, fuͤllen die
Sinnen meiner Stirne.

Was iſt der Menſch? der geprieſene Halb-
gott! Ermangeln ihm nicht da eben, die Kraͤfte

wo
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <div type="diaryEntry">
          <p><pb facs="#f0059" n="171"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Gottes Willen, &#x017F;agt ich mit einem heftigen Aus-<lb/>
bruch hin gegen &#x017F;ie fahrend, um Gottes Willen ho&#x0364;-<lb/>
ren &#x017F;ie auf. Sie hielt, und &#x017F;ah mich &#x017F;tarr an.<lb/>
Werther, &#x017F;agte &#x017F;ie, mit einem La&#x0364;chlen, das mir<lb/>
durch die Seele gieng, Werther, &#x017F;ie &#x017F;ind &#x017F;ehr krank,<lb/>
ihre Lieblingsgerichte wider&#x017F;tehen ihnen. Gehen<lb/>
&#x017F;ie! Jch bitte &#x017F;ie, beruhigen &#x017F;ie &#x017F;ich. Jch riß<lb/>
mich von ihr weg, und &#x2014; Gott! du &#x017F;ieh&#x017F;t mein<lb/>
Elend, und wir&#x017F;t es enden.</p><lb/>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div type="diaryEntry">
          <dateline> <hi rendition="#et">am 6 Dez.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">W</hi>ie mich die Ge&#x017F;talt verfolgt. Wachend und<lb/>
tra&#x0364;umend fu&#x0364;llt &#x017F;ie meine ganze Seele.<lb/>
Hier, wenn ich die Augen &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;e, hier in mei-<lb/>
ner Stirne, wo die innere Sehkraft &#x017F;ich verei-<lb/>
nigt, &#x017F;tehen ihre &#x017F;chwarzen Augen. Hier! Jch<lb/>
kann dir&#x2019;s nicht ausdru&#x0364;kken. Mach ich meine Au-<lb/>
gen zu, &#x017F;o &#x017F;ind &#x017F;ie da, wie ein Meer, wie ein<lb/>
Abgrund ruhen &#x017F;ie vor mir, in mir, fu&#x0364;llen die<lb/>
Sinnen meiner Stirne.</p><lb/>
          <p>Was i&#x017F;t der Men&#x017F;ch? der geprie&#x017F;ene Halb-<lb/>
gott! Ermangeln ihm nicht da eben, die Kra&#x0364;fte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wo</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171/0059] Gottes Willen, ſagt ich mit einem heftigen Aus- bruch hin gegen ſie fahrend, um Gottes Willen hoͤ- ren ſie auf. Sie hielt, und ſah mich ſtarr an. Werther, ſagte ſie, mit einem Laͤchlen, das mir durch die Seele gieng, Werther, ſie ſind ſehr krank, ihre Lieblingsgerichte widerſtehen ihnen. Gehen ſie! Jch bitte ſie, beruhigen ſie ſich. Jch riß mich von ihr weg, und — Gott! du ſiehſt mein Elend, und wirſt es enden. am 6 Dez. Wie mich die Geſtalt verfolgt. Wachend und traͤumend fuͤllt ſie meine ganze Seele. Hier, wenn ich die Augen ſchlieſſe, hier in mei- ner Stirne, wo die innere Sehkraft ſich verei- nigt, ſtehen ihre ſchwarzen Augen. Hier! Jch kann dir’s nicht ausdruͤkken. Mach ich meine Au- gen zu, ſo ſind ſie da, wie ein Meer, wie ein Abgrund ruhen ſie vor mir, in mir, fuͤllen die Sinnen meiner Stirne. Was iſt der Menſch? der geprieſene Halb- gott! Ermangeln ihm nicht da eben, die Kraͤfte wo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/59
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/59>, abgerufen am 29.03.2024.