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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Und wie ich wehmüthig hinab sah auf ein
Pläzgen, wo ich mit Lotten unter einer Weide ge-
ruht, auf einem heissen Spaziergange, das war auch
überschwemmt, und kaum daß ich die Weide er-
kannte! Wilhelm. Und ihre Wiesen, dacht ich,
und all die Gegend um ihr Jagdhaus, wie jezt
vom reissenden Strome, verstört unsere Lauben,
dacht ich. Und der Vergangenheit Sonnenstrahl
blikte herein -- Wie einem Gefangenen ein
Traum von Heerden, Wiesen und Ehrenämtern.
Jch stand! -- Jch schelte mich nicht, denn ich ha-
be Muth zu sterben -- Jch hätte -- Nun siz
ich hier wie ein altes Weib, das ihr Holz an Zäu-
nen stoppelt, und ihr Brod an den Thüren, um
ihr hinsterbendes freudloses Daseyn noch einen Au-
genblik zu verlängern und zu erleichtern.




Was ist das, mein Lieber? Jch erschrekke vor
mir selbst! Jst nicht meine Liebe zu ihr
die heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Hab ich
jemals einen strafbaren Wunsch in meiner Seele

ge-


Und wie ich wehmuͤthig hinab ſah auf ein
Plaͤzgen, wo ich mit Lotten unter einer Weide ge-
ruht, auf einem heiſſen Spaziergange, das war auch
uͤberſchwemmt, und kaum daß ich die Weide er-
kannte! Wilhelm. Und ihre Wieſen, dacht ich,
und all die Gegend um ihr Jagdhaus, wie jezt
vom reiſſenden Strome, verſtoͤrt unſere Lauben,
dacht ich. Und der Vergangenheit Sonnenſtrahl
blikte herein — Wie einem Gefangenen ein
Traum von Heerden, Wieſen und Ehrenaͤmtern.
Jch ſtand! — Jch ſchelte mich nicht, denn ich ha-
be Muth zu ſterben — Jch haͤtte — Nun ſiz
ich hier wie ein altes Weib, das ihr Holz an Zaͤu-
nen ſtoppelt, und ihr Brod an den Thuͤren, um
ihr hinſterbendes freudloſes Daſeyn noch einen Au-
genblik zu verlaͤngern und zu erleichtern.




Was iſt das, mein Lieber? Jch erſchrekke vor
mir ſelbſt! Jſt nicht meine Liebe zu ihr
die heiligſte, reinſte, bruͤderlichſte Liebe? Hab ich
jemals einen ſtrafbaren Wunſch in meiner Seele

ge-
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[174/0062] Und wie ich wehmuͤthig hinab ſah auf ein Plaͤzgen, wo ich mit Lotten unter einer Weide ge- ruht, auf einem heiſſen Spaziergange, das war auch uͤberſchwemmt, und kaum daß ich die Weide er- kannte! Wilhelm. Und ihre Wieſen, dacht ich, und all die Gegend um ihr Jagdhaus, wie jezt vom reiſſenden Strome, verſtoͤrt unſere Lauben, dacht ich. Und der Vergangenheit Sonnenſtrahl blikte herein — Wie einem Gefangenen ein Traum von Heerden, Wieſen und Ehrenaͤmtern. Jch ſtand! — Jch ſchelte mich nicht, denn ich ha- be Muth zu ſterben — Jch haͤtte — Nun ſiz ich hier wie ein altes Weib, das ihr Holz an Zaͤu- nen ſtoppelt, und ihr Brod an den Thuͤren, um ihr hinſterbendes freudloſes Daſeyn noch einen Au- genblik zu verlaͤngern und zu erleichtern. am 17. Dez. Was iſt das, mein Lieber? Jch erſchrekke vor mir ſelbſt! Jſt nicht meine Liebe zu ihr die heiligſte, reinſte, bruͤderlichſte Liebe? Hab ich jemals einen ſtrafbaren Wunſch in meiner Seele ge-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/62>, abgerufen am 25.04.2024.