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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Der Herausgeber
an den Leser.

Die ausführliche Geschichte der lezten merkwür-
digen Tage unsers Freundes zu liefern, seh
ich mich genöthiget seine Briefe durch Erzählung
zu unterbrechen, wozu ich den Stof aus dem Mun-
de Lottens, Albertens, seines Bedienten, und an-
derer Zeugen gesammlet habe.

Werthers Leidenschaft hatte den Frieden zwi-
schen Alberten und seiner Frau allmählig unter-
graben, dieser liebte sie mit der ruhigen Treue ei-
nes rechtschafnen Manns, und der freundliche Um-
gang mit ihr subordinirte sich nach und nach sei-
nen Geschäften. Zwar wollte er sich nicht den Un-
terschied gestehen, der die gegenwärtige Zeit den
Bräutigams-Tagen so ungleich machte: doch fühl-
te er innerlich einen gewissen Widerwillen gegen
Werthers Aufmerksamkeiten für Lotten, die ihn zu-
gleich ein Eingriff in seine Rechte und ein stiller
Vorwurf zu seyn scheinen mußten. Dadurch ward
der üble Humor vermehrt, den ihm seine über-
häuften, gehinderten, schlecht belohnten Geschäfte
manchmal gaben, und da denn Werthers Lage auch

ihm


Der Herausgeber
an den Leſer.

Die ausfuͤhrliche Geſchichte der lezten merkwuͤr-
digen Tage unſers Freundes zu liefern, ſeh
ich mich genoͤthiget ſeine Briefe durch Erzaͤhlung
zu unterbrechen, wozu ich den Stof aus dem Mun-
de Lottens, Albertens, ſeines Bedienten, und an-
derer Zeugen geſammlet habe.

Werthers Leidenſchaft hatte den Frieden zwi-
ſchen Alberten und ſeiner Frau allmaͤhlig unter-
graben, dieſer liebte ſie mit der ruhigen Treue ei-
nes rechtſchafnen Manns, und der freundliche Um-
gang mit ihr ſubordinirte ſich nach und nach ſei-
nen Geſchaͤften. Zwar wollte er ſich nicht den Un-
terſchied geſtehen, der die gegenwaͤrtige Zeit den
Braͤutigams-Tagen ſo ungleich machte: doch fuͤhl-
te er innerlich einen gewiſſen Widerwillen gegen
Werthers Aufmerkſamkeiten fuͤr Lotten, die ihn zu-
gleich ein Eingriff in ſeine Rechte und ein ſtiller
Vorwurf zu ſeyn ſcheinen mußten. Dadurch ward
der uͤble Humor vermehrt, den ihm ſeine uͤber-
haͤuften, gehinderten, ſchlecht belohnten Geſchaͤfte
manchmal gaben, und da denn Werthers Lage auch

ihm
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[176/0064] Der Herausgeber an den Leſer. Die ausfuͤhrliche Geſchichte der lezten merkwuͤr- digen Tage unſers Freundes zu liefern, ſeh ich mich genoͤthiget ſeine Briefe durch Erzaͤhlung zu unterbrechen, wozu ich den Stof aus dem Mun- de Lottens, Albertens, ſeines Bedienten, und an- derer Zeugen geſammlet habe. Werthers Leidenſchaft hatte den Frieden zwi- ſchen Alberten und ſeiner Frau allmaͤhlig unter- graben, dieſer liebte ſie mit der ruhigen Treue ei- nes rechtſchafnen Manns, und der freundliche Um- gang mit ihr ſubordinirte ſich nach und nach ſei- nen Geſchaͤften. Zwar wollte er ſich nicht den Un- terſchied geſtehen, der die gegenwaͤrtige Zeit den Braͤutigams-Tagen ſo ungleich machte: doch fuͤhl- te er innerlich einen gewiſſen Widerwillen gegen Werthers Aufmerkſamkeiten fuͤr Lotten, die ihn zu- gleich ein Eingriff in ſeine Rechte und ein ſtiller Vorwurf zu ſeyn ſcheinen mußten. Dadurch ward der uͤble Humor vermehrt, den ihm ſeine uͤber- haͤuften, gehinderten, ſchlecht belohnten Geſchaͤfte manchmal gaben, und da denn Werthers Lage auch ihm

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/64>, abgerufen am 29.03.2024.