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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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nicht ausreichen, würden sie nicht dadurch verstärkt, daß ich aus der Mitte pgo_IV.002
der neueren Bestrebungen heraus, mit der gesammelten Kraft der Zeitgenossen, pgo_IV.003
mein Werk zu vollenden trachte, daß ich gleichsam die latente pgo_IV.004
Poetik,
welche in den Dichtungen der neuern Poeten schlummert, entbinde pgo_IV.005
und ihr einen wissenschaftlichen Ausdruck zu geben suche. Poesie pgo_IV.006
und Poetik hängen auf's Jnnigste zusammen. Der Philosoph mag die pgo_IV.007
Jdee des Schönen bestimmen; aber selbst ein Aristoteles hätte seinem pgo_IV.008
Werke kein konkretes Leben verleihen können, wenn nicht die erhabenen pgo_IV.009
Schöpfungen eines Homer und Sophokles seinem poetischen Kanon pgo_IV.010
vorausgegangen wären. Der größte Gesetzgeber auf dem Gebiete der pgo_IV.011
Dichtkunst bleibt ewig der dichterische Genius. Weil aber die Jdee des pgo_IV.012
Schönen, sobald sie in die Erscheinung untertaucht, mit jedem Jahrhundert pgo_IV.013
ihre Hülle wechselt: so ist Nichts gefährlicher, als der Götzendienst, pgo_IV.014
der mit diesen abgelegten Schlangenhäuten der Geschichte getrieben wird, pgo_IV.015
als diese Verwechslung des Ewigen und Vergänglichen, welche in der pgo_IV.016
That das zerbrechliche Fundament einer die neuern Erscheinungen verurtheilenden pgo_IV.017
Rhadamanthenweisheit bildet. Auch unser Jahrhundert pgo_IV.018
giebt der ewigen Schönheit eine neue Hülle; unsere Dichter haben die pgo_IV.019
großartigsten Jmpulse zur Fortentwicklung der Poesie im Geiste der Zeit pgo_IV.020
gegeben; aber die Mehrzahl unserer Aesthetiker hat diese Fortschritte nur pgo_IV.021
mit Achselzucken begrüßt, weil sie das ursprüngliche Wesen des Schönen pgo_IV.022
in dieser neuen Erscheinungsform nicht zu erkennen vermochten.

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Von diesem Standpunkte aus angesehn, kann es mir unmöglich zum pgo_IV.024
Nachtheile gereichen, daß ich mich selbst produktiv auf den verschiedensten pgo_IV.025
Gebieten, in der Lyrik, Dramatik und Epik, versucht habe. Nur in der pgo_IV.026
Werkstatt des dichterischen Schaffens selbst belauscht man seine Geheimnisse, pgo_IV.027
und wie schon eine vollkommen unproduktive Kritik etwas Eunuchenhaftes pgo_IV.028
hat und ihre Lehren mit einer Fistelstimme vorträgt, der die vollen pgo_IV.029
Brusttöne fehlen, so ist dies in viel höherem Grade bei einer Poetik der pgo_IV.030
Fall, in welcher alle Feinheiten der dichterischen Technik zur Sprache

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nicht ausreichen, würden sie nicht dadurch verstärkt, daß ich aus der Mitte pgo_IV.002
der neueren Bestrebungen heraus, mit der gesammelten Kraft der Zeitgenossen, pgo_IV.003
mein Werk zu vollenden trachte, daß ich gleichsam die latente pgo_IV.004
Poetik,
welche in den Dichtungen der neuern Poeten schlummert, entbinde pgo_IV.005
und ihr einen wissenschaftlichen Ausdruck zu geben suche. Poesie pgo_IV.006
und Poetik hängen auf's Jnnigste zusammen. Der Philosoph mag die pgo_IV.007
Jdee des Schönen bestimmen; aber selbst ein Aristoteles hätte seinem pgo_IV.008
Werke kein konkretes Leben verleihen können, wenn nicht die erhabenen pgo_IV.009
Schöpfungen eines Homer und Sophokles seinem poetischen Kanon pgo_IV.010
vorausgegangen wären. Der größte Gesetzgeber auf dem Gebiete der pgo_IV.011
Dichtkunst bleibt ewig der dichterische Genius. Weil aber die Jdee des pgo_IV.012
Schönen, sobald sie in die Erscheinung untertaucht, mit jedem Jahrhundert pgo_IV.013
ihre Hülle wechselt: so ist Nichts gefährlicher, als der Götzendienst, pgo_IV.014
der mit diesen abgelegten Schlangenhäuten der Geschichte getrieben wird, pgo_IV.015
als diese Verwechslung des Ewigen und Vergänglichen, welche in der pgo_IV.016
That das zerbrechliche Fundament einer die neuern Erscheinungen verurtheilenden pgo_IV.017
Rhadamanthenweisheit bildet. Auch unser Jahrhundert pgo_IV.018
giebt der ewigen Schönheit eine neue Hülle; unsere Dichter haben die pgo_IV.019
großartigsten Jmpulse zur Fortentwicklung der Poesie im Geiste der Zeit pgo_IV.020
gegeben; aber die Mehrzahl unserer Aesthetiker hat diese Fortschritte nur pgo_IV.021
mit Achselzucken begrüßt, weil sie das ursprüngliche Wesen des Schönen pgo_IV.022
in dieser neuen Erscheinungsform nicht zu erkennen vermochten.

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Von diesem Standpunkte aus angesehn, kann es mir unmöglich zum pgo_IV.024
Nachtheile gereichen, daß ich mich selbst produktiv auf den verschiedensten pgo_IV.025
Gebieten, in der Lyrik, Dramatik und Epik, versucht habe. Nur in der pgo_IV.026
Werkstatt des dichterischen Schaffens selbst belauscht man seine Geheimnisse, pgo_IV.027
und wie schon eine vollkommen unproduktive Kritik etwas Eunuchenhaftes pgo_IV.028
hat und ihre Lehren mit einer Fistelstimme vorträgt, der die vollen pgo_IV.029
Brusttöne fehlen, so ist dies in viel höherem Grade bei einer Poetik der pgo_IV.030
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. RIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/10>, abgerufen am 16.04.2024.