Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_VIII.001
selbstverständlich dies scheint, so sehr wird gerade in unserer Zeit und in pgo_VIII.002
Deutschland dagegen gesündigt, indem eine Alles sich aneignende Gelehrsamkeit, pgo_VIII.003
ein mit der Kultur aller Zeiten übersättigter Geschmack die pgo_VIII.004
unmittelbare Lebenskraft der Poesie verloren haben und noch mehr den pgo_VIII.005
Maaßstab für das, was im Leben der Gegenwart Wurzeln zu schlagen pgo_VIII.006
vermag. Eine gewaltige Dichterkraft wird auch fremdartige Formen pgo_VIII.007
ihrem Genius dienstbar machen und, wenn dieser Genius auf der Höhe pgo_VIII.008
seines Jahrhunderts steht, die Nation mit wahrhaft neuen Schöpfungen pgo_VIII.009
bereichern; doch wenn diese Formen nur äußerlich nachgeahmt werden, pgo_VIII.010
wenn wir in den Nachempfindungen einer untergegangenen oder exotischen pgo_VIII.011
Kultur aufgehn, in Ghaselen persisch und türkisch lieben, in Trimetern pgo_VIII.012
alte Griechenfürsten auf den Kothurn peitschen, in Minneliedern und pgo_VIII.013
Balladen altdeutsche Sprechweise aufwärmen und faustrechtliche Bravour pgo_VIII.014
feiern: so wird unsere Literatur nur den babylonischen Thurmbau in pgo_VIII.015
Scene setzen, eine allgemeine Sprachverwirrung hervorrufen und das pgo_VIII.016
Jnteresse der Nation so nach allen Richtungen zersplittern, daß zuletzt eine pgo_VIII.017
vollkommene Jndifferenz gegen alle Poesie die Folge sein muß. Denn pgo_VIII.018
in der That, die erdrückende Masse einer den Markt überschwemmenden pgo_VIII.019
Literatur, in welcher selbst das Hervorragende sich nur schwer Bahn zu pgo_VIII.020
brechen vermag, wird ja gerade durch den erstaunlich thätigen Dilettantismus pgo_VIII.021
erzeugt, der an die Nation die Zumuthung stellt, sich für alle seine pgo_VIII.022
akademischen Studien zu interessiren, mag er seine Modelle aus China, pgo_VIII.023
Egypten oder Lappland nehmen. Gerade nach dieser Seite hin wünschte pgo_VIII.024
ich, daß meine "Poetik" reformatorisch auftreten, daß sich Alle, welche pgo_VIII.025
die moderne Poesie in meinem Sinne auffassen, wie ein starker Phalanx pgo_VIII.026
um ihr Panier sammeln möchten. Jch wäre stolz darauf, nur die äußere pgo_VIII.027
Veranlassung zu einem Zusammenhalt für Gleichstrebende gegeben zu pgo_VIII.028
haben! Schon die Poetiken eines Gottsched und Breitinger wirkten pgo_VIII.029
in dieser Weise. Es bedarf keiner Koterieen und keiner Schulen; es pgo_VIII.030
bedarf nur einer Losung, welche die Heerlager sondert!

pgo_VIII.001
selbstverständlich dies scheint, so sehr wird gerade in unserer Zeit und in pgo_VIII.002
Deutschland dagegen gesündigt, indem eine Alles sich aneignende Gelehrsamkeit, pgo_VIII.003
ein mit der Kultur aller Zeiten übersättigter Geschmack die pgo_VIII.004
unmittelbare Lebenskraft der Poesie verloren haben und noch mehr den pgo_VIII.005
Maaßstab für das, was im Leben der Gegenwart Wurzeln zu schlagen pgo_VIII.006
vermag. Eine gewaltige Dichterkraft wird auch fremdartige Formen pgo_VIII.007
ihrem Genius dienstbar machen und, wenn dieser Genius auf der Höhe pgo_VIII.008
seines Jahrhunderts steht, die Nation mit wahrhaft neuen Schöpfungen pgo_VIII.009
bereichern; doch wenn diese Formen nur äußerlich nachgeahmt werden, pgo_VIII.010
wenn wir in den Nachempfindungen einer untergegangenen oder exotischen pgo_VIII.011
Kultur aufgehn, in Ghaselen persisch und türkisch lieben, in Trimetern pgo_VIII.012
alte Griechenfürsten auf den Kothurn peitschen, in Minneliedern und pgo_VIII.013
Balladen altdeutsche Sprechweise aufwärmen und faustrechtliche Bravour pgo_VIII.014
feiern: so wird unsere Literatur nur den babylonischen Thurmbau in pgo_VIII.015
Scene setzen, eine allgemeine Sprachverwirrung hervorrufen und das pgo_VIII.016
Jnteresse der Nation so nach allen Richtungen zersplittern, daß zuletzt eine pgo_VIII.017
vollkommene Jndifferenz gegen alle Poesie die Folge sein muß. Denn pgo_VIII.018
in der That, die erdrückende Masse einer den Markt überschwemmenden pgo_VIII.019
Literatur, in welcher selbst das Hervorragende sich nur schwer Bahn zu pgo_VIII.020
brechen vermag, wird ja gerade durch den erstaunlich thätigen Dilettantismus pgo_VIII.021
erzeugt, der an die Nation die Zumuthung stellt, sich für alle seine pgo_VIII.022
akademischen Studien zu interessiren, mag er seine Modelle aus China, pgo_VIII.023
Egypten oder Lappland nehmen. Gerade nach dieser Seite hin wünschte pgo_VIII.024
ich, daß meine „Poetik“ reformatorisch auftreten, daß sich Alle, welche pgo_VIII.025
die moderne Poesie in meinem Sinne auffassen, wie ein starker Phalanx pgo_VIII.026
um ihr Panier sammeln möchten. Jch wäre stolz darauf, nur die äußere pgo_VIII.027
Veranlassung zu einem Zusammenhalt für Gleichstrebende gegeben zu pgo_VIII.028
haben! Schon die Poetiken eines Gottsched und Breitinger wirkten pgo_VIII.029
in dieser Weise. Es bedarf keiner Koterieen und keiner Schulen; es pgo_VIII.030
bedarf nur einer Losung, welche die Heerlager sondert!

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="preface">
        <p><pb facs="#f0014" n="RVIII"/><lb n="pgo_VIII.001"/>
selbstverständlich dies scheint, so sehr wird gerade in unserer Zeit und in <lb n="pgo_VIII.002"/>
Deutschland dagegen gesündigt, indem eine Alles sich aneignende Gelehrsamkeit, <lb n="pgo_VIII.003"/>
ein mit der Kultur aller Zeiten übersättigter Geschmack die <lb n="pgo_VIII.004"/>
unmittelbare Lebenskraft der Poesie verloren haben und noch mehr den <lb n="pgo_VIII.005"/>
Maaßstab für das, was im Leben der Gegenwart Wurzeln zu schlagen <lb n="pgo_VIII.006"/>
vermag. Eine gewaltige Dichterkraft wird auch fremdartige Formen <lb n="pgo_VIII.007"/>
ihrem Genius dienstbar machen und, wenn dieser Genius auf der Höhe <lb n="pgo_VIII.008"/>
seines Jahrhunderts steht, die Nation mit wahrhaft neuen Schöpfungen <lb n="pgo_VIII.009"/>
bereichern; doch wenn diese Formen nur äußerlich nachgeahmt werden, <lb n="pgo_VIII.010"/>
wenn wir in den Nachempfindungen einer untergegangenen oder exotischen <lb n="pgo_VIII.011"/>
Kultur aufgehn, in Ghaselen persisch und türkisch lieben, in Trimetern <lb n="pgo_VIII.012"/>
alte Griechenfürsten auf den Kothurn peitschen, in Minneliedern und <lb n="pgo_VIII.013"/>
Balladen altdeutsche Sprechweise aufwärmen und faustrechtliche Bravour <lb n="pgo_VIII.014"/>
feiern: so wird unsere Literatur nur den babylonischen Thurmbau in <lb n="pgo_VIII.015"/>
Scene setzen, eine allgemeine Sprachverwirrung hervorrufen und das <lb n="pgo_VIII.016"/>
Jnteresse der Nation so nach allen Richtungen zersplittern, daß zuletzt eine <lb n="pgo_VIII.017"/>
vollkommene Jndifferenz gegen alle Poesie die Folge sein muß. Denn <lb n="pgo_VIII.018"/>
in der That, die erdrückende Masse einer den Markt überschwemmenden <lb n="pgo_VIII.019"/>
Literatur, in welcher selbst das Hervorragende sich nur schwer Bahn zu <lb n="pgo_VIII.020"/>
brechen vermag, wird ja gerade durch den erstaunlich thätigen Dilettantismus <lb n="pgo_VIII.021"/>
erzeugt, der an die Nation die Zumuthung stellt, sich für alle seine <lb n="pgo_VIII.022"/>
akademischen Studien zu interessiren, mag er seine Modelle aus China, <lb n="pgo_VIII.023"/>
Egypten oder Lappland nehmen. Gerade nach dieser Seite hin wünschte <lb n="pgo_VIII.024"/>
ich, daß meine &#x201E;Poetik&#x201C; <hi rendition="#g">reformatorisch</hi> auftreten, daß sich Alle, welche <lb n="pgo_VIII.025"/>
die moderne Poesie in meinem Sinne auffassen, wie ein starker Phalanx <lb n="pgo_VIII.026"/>
um ihr Panier sammeln möchten. Jch wäre stolz darauf, nur die äußere <lb n="pgo_VIII.027"/>
Veranlassung zu einem <hi rendition="#g">Zusammenhalt</hi> für Gleichstrebende gegeben zu <lb n="pgo_VIII.028"/>
haben! Schon die Poetiken eines <hi rendition="#g">Gottsched</hi> und <hi rendition="#g">Breitinger</hi> wirkten <lb n="pgo_VIII.029"/>
in dieser Weise. Es bedarf keiner Koterieen und keiner Schulen; es <lb n="pgo_VIII.030"/>
bedarf nur einer Losung, welche die Heerlager sondert!</p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[RVIII/0014] pgo_VIII.001 selbstverständlich dies scheint, so sehr wird gerade in unserer Zeit und in pgo_VIII.002 Deutschland dagegen gesündigt, indem eine Alles sich aneignende Gelehrsamkeit, pgo_VIII.003 ein mit der Kultur aller Zeiten übersättigter Geschmack die pgo_VIII.004 unmittelbare Lebenskraft der Poesie verloren haben und noch mehr den pgo_VIII.005 Maaßstab für das, was im Leben der Gegenwart Wurzeln zu schlagen pgo_VIII.006 vermag. Eine gewaltige Dichterkraft wird auch fremdartige Formen pgo_VIII.007 ihrem Genius dienstbar machen und, wenn dieser Genius auf der Höhe pgo_VIII.008 seines Jahrhunderts steht, die Nation mit wahrhaft neuen Schöpfungen pgo_VIII.009 bereichern; doch wenn diese Formen nur äußerlich nachgeahmt werden, pgo_VIII.010 wenn wir in den Nachempfindungen einer untergegangenen oder exotischen pgo_VIII.011 Kultur aufgehn, in Ghaselen persisch und türkisch lieben, in Trimetern pgo_VIII.012 alte Griechenfürsten auf den Kothurn peitschen, in Minneliedern und pgo_VIII.013 Balladen altdeutsche Sprechweise aufwärmen und faustrechtliche Bravour pgo_VIII.014 feiern: so wird unsere Literatur nur den babylonischen Thurmbau in pgo_VIII.015 Scene setzen, eine allgemeine Sprachverwirrung hervorrufen und das pgo_VIII.016 Jnteresse der Nation so nach allen Richtungen zersplittern, daß zuletzt eine pgo_VIII.017 vollkommene Jndifferenz gegen alle Poesie die Folge sein muß. Denn pgo_VIII.018 in der That, die erdrückende Masse einer den Markt überschwemmenden pgo_VIII.019 Literatur, in welcher selbst das Hervorragende sich nur schwer Bahn zu pgo_VIII.020 brechen vermag, wird ja gerade durch den erstaunlich thätigen Dilettantismus pgo_VIII.021 erzeugt, der an die Nation die Zumuthung stellt, sich für alle seine pgo_VIII.022 akademischen Studien zu interessiren, mag er seine Modelle aus China, pgo_VIII.023 Egypten oder Lappland nehmen. Gerade nach dieser Seite hin wünschte pgo_VIII.024 ich, daß meine „Poetik“ reformatorisch auftreten, daß sich Alle, welche pgo_VIII.025 die moderne Poesie in meinem Sinne auffassen, wie ein starker Phalanx pgo_VIII.026 um ihr Panier sammeln möchten. Jch wäre stolz darauf, nur die äußere pgo_VIII.027 Veranlassung zu einem Zusammenhalt für Gleichstrebende gegeben zu pgo_VIII.028 haben! Schon die Poetiken eines Gottsched und Breitinger wirkten pgo_VIII.029 in dieser Weise. Es bedarf keiner Koterieen und keiner Schulen; es pgo_VIII.030 bedarf nur einer Losung, welche die Heerlager sondert!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/14
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. RVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/14>, abgerufen am 29.03.2024.