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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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des wackern Altmeisters auf die poetische Kraft der Muttersprache pgo_008.002
und darauf, daß unser Land unter keiner "so rauhen und ungeschlachten pgo_008.003
Luft" liege, "daß es nicht ebendergleichen zur Poesie tüchtige ingenia pgo_008.004
könne tragen," bildet die eigentliche Glanzseite des Büchleins, das die pgo_008.005
Lehren von dichterischer Erfindung und Disposition, von der Zubereitung pgo_008.006
und Zier der Worte, von den Reimen nur flüchtig streift und sich weder pgo_008.007
durch reichhaltigen Jnhalt, noch durch geschickte Definitionen auszeichnet*). pgo_008.008
Dennoch war damit für die deutsche Poetik die Bahn gebrochen -- pgo_008.009
und ein Jahrhundert später gab der kritische Leipziger Dictator Johann pgo_008.010
Christoph Gottsched
seinen "Versuch einer kritischen Dichtkunst" pgo_008.011
(1750) heraus, welcher, wie man auch über seine Bedeutung pgo_008.012
denken mag, doch einen bedeutenden Fortschritt gegen die schüchterne pgo_008.013
Poeterey des schlesischen Dichters bekundet. Gottsched hat sich mit seinem pgo_008.014
kalten und klaren ostpreußischen Verstande unleugbare Verdienste um die pgo_008.015
deutsche Poesie erworben, wenn ihm auch das Organ für die freieren pgo_008.016
dichterischen Schönheiten fehlte und er zu sehr der oft farblosen Correctheit pgo_008.017
der französischen Muster nachstrebte. Sein Kampf gegen den pgo_008.018
Schwulst und die Uebertreibungen der zweiten Schlesischen Dichterschule, pgo_008.019
selbst seine Verbannung des Hanswurst's von der deutschen Bühne, pgo_008.020
welcher seine stereotypen Unfläthereien weder zur Zierde noch zum Heile pgo_008.021
gereichen konnten, sind noch immer nicht nach Gebühr gewürdigt, weil die pgo_008.022
nachstrebende jüngere Generation in ihrem siegreichen Kampfe gegen die pgo_008.023
Steifheit der Gottsched'schen Poetik die Sympathieen der Gegenwart für pgo_008.024
sich hat. Gerade diese Poetik ist wohl das beste Werk des Leipziger pgo_008.025
Kritikers. Uebersichtlich und faßlich geordnet, ansprechend stylisirt, klar, pgo_008.026
wenn auch oberflächlich in den Begriffsbestimmungen, überall Zeugniß pgo_008.027
ablegend für die Belesenheit des Autors in der klassischen, französischen pgo_008.028
und neuern deutschen Literatur, nimmt die Poetik Gottsched's eine pgo_008.029
Stellung in der letzteren ein, welche in dieser Weise, dem Fortschritte der

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Man vergleiche z. B. die Definition der Tragödie, p. 36: "die Tragoedie ist an pgo_008.031
der majestet dem Heroischen getichte gemesse ohne das sie selten leidet das man geringen pgo_008.032
standespersonen und schlechte Sachen einführe: weil sie nur von Königlichem Willen, pgo_008.033
Todtschlägen, verzweiffelungen, Kinder- und Vätermörden, Brande, Blutschanden, pgo_008.034
Kriege und Aufruhr, Klagen, Heulen, Seufftzen und dergleichen handelt."

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des wackern Altmeisters auf die poetische Kraft der Muttersprache pgo_008.002
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Luft“ liege, „daß es nicht ebendergleichen zur Poesie tüchtige ingenia pgo_008.004
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und Zier der Worte, von den Reimen nur flüchtig streift und sich weder pgo_008.007
durch reichhaltigen Jnhalt, noch durch geschickte Definitionen auszeichnet*). pgo_008.008
Dennoch war damit für die deutsche Poetik die Bahn gebrochen — pgo_008.009
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Christoph Gottsched
seinen „Versuch einer kritischen Dichtkunstpgo_008.011
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Poeterey des schlesischen Dichters bekundet. Gottsched hat sich mit seinem pgo_008.014
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und neuern deutschen Literatur, nimmt die Poetik Gottsched's eine pgo_008.029
Stellung in der letzteren ein, welche in dieser Weise, dem Fortschritte der

*) pgo_008.030
Man vergleiche z. B. die Definition der Tragödie, p. 36: „die Tragoedie ist an pgo_008.031
der majestet dem Heroischen getichte gemesse ohne das sie selten leidet das man geringen pgo_008.032
standespersonen und schlechte Sachen einführe: weil sie nur von Königlichem Willen, pgo_008.033
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/30>, abgerufen am 19.04.2024.