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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das zwölfte Capitel.
Von dem Wohlklange der poetischen
Schreibart, dem verschiedenen Sylbenmaaße
und den Reimen.

NJchts ist in diesem allgemeinen Theile der Dicht-
kunst noch übrig, als die Abhandlung von dem
Wohlklange der in der poetischen Schreibart mehr,
als in prosaischen Sachen beobachtet werden muß. Unter
diesem allgemeinen Ausdrucke begreife ich alles, was an
Versen ins Gehör fällt, die Abwechselung langer und kur-
tzer Sylben, den Abschnitt, die Schluß-Puncte in den Stro-
phen, die Reime, und wo sonst noch etwas die Ohren kützeln,
und dadurch das Gemüth eines Lesers oder Zuhörers belu-
stigen kan. Die Music allein nehme ich aus, als welches
eine eigene Kunst ist, die auch ohne die Poesie bestehen kan: es
wäre denn, daß man auch die Harmonie eines wohl aus-
gesprochenen Verßes, nach Art der Alten, einen Gesang nen-
nen wollte.

Zwar hat auch die ungebundne Schreibart ihren ge-
wissen Wohlklang, davon Cicero in seinen Gesprächen vom
Redner, Quintilian, und nach ihnen fast alle Lehrer der Be-
redsamkeit ausführlich zu handeln pflegen. Wenn man es
genau untersuchet, woher derselbe entsteht, so findet man,
daß es nichts anders, als die angenehme Abwechselung ge-
wisser lautenden und stummen Buchstaben, imgleichen die
Vermischung langer und kurtzer Sylben sey, die hinter ein-
ander ausgesprochen einen lieblichen Klang verursachen.
Wie viel darauf in der Wohlredenheit ankomme, ist be-
kannt. Offtmahls werden die Zuhörer einer so harmoni-
schen Rede dadurch mehr als durch die besten Gründe ge-
rühret und eingenommen; zumahl wenn der Redner eine
liebliche Stimme hat, und bey einer deutlichen Aussprache
aller Sylben und Buchstaben die Thöne derselben geschickt,
das ist, den Sachen und dem Affecte gemäß zu verändern

weiß.
Das zwoͤlfte Capitel.
Von dem Wohlklange der poetiſchen
Schreibart, dem verſchiedenen Sylbenmaaße
und den Reimen.

NJchts iſt in dieſem allgemeinen Theile der Dicht-
kunſt noch uͤbrig, als die Abhandlung von dem
Wohlklange der in der poetiſchen Schreibart mehr,
als in proſaiſchen Sachen beobachtet werden muß. Unter
dieſem allgemeinen Ausdrucke begreife ich alles, was an
Verſen ins Gehoͤr faͤllt, die Abwechſelung langer und kur-
tzer Sylben, den Abſchnitt, die Schluß-Puncte in den Stro-
phen, die Reime, und wo ſonſt noch etwas die Ohren kuͤtzeln,
und dadurch das Gemuͤth eines Leſers oder Zuhoͤrers belu-
ſtigen kan. Die Muſic allein nehme ich aus, als welches
eine eigene Kunſt iſt, die auch ohne die Poeſie beſtehen kan: es
waͤre denn, daß man auch die Harmonie eines wohl aus-
geſprochenen Verßes, nach Art der Alten, einen Geſang nen-
nen wollte.

Zwar hat auch die ungebundne Schreibart ihren ge-
wiſſen Wohlklang, davon Cicero in ſeinen Geſpraͤchen vom
Redner, Quintilian, und nach ihnen faſt alle Lehrer der Be-
redſamkeit ausfuͤhrlich zu handeln pflegen. Wenn man es
genau unterſuchet, woher derſelbe entſteht, ſo findet man,
daß es nichts anders, als die angenehme Abwechſelung ge-
wiſſer lautenden und ſtummen Buchſtaben, imgleichen die
Vermiſchung langer und kurtzer Sylben ſey, die hinter ein-
ander ausgeſprochen einen lieblichen Klang verurſachen.
Wie viel darauf in der Wohlredenheit ankomme, iſt be-
kannt. Offtmahls werden die Zuhoͤrer einer ſo harmoni-
ſchen Rede dadurch mehr als durch die beſten Gruͤnde ge-
ruͤhret und eingenommen; zumahl wenn der Redner eine
liebliche Stimme hat, und bey einer deutlichen Ausſprache
aller Sylben und Buchſtaben die Thoͤne derſelben geſchickt,
das iſt, den Sachen und dem Affecte gemaͤß zu veraͤndern

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[303/0331] Das zwoͤlfte Capitel. Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart, dem verſchiedenen Sylbenmaaße und den Reimen. NJchts iſt in dieſem allgemeinen Theile der Dicht- kunſt noch uͤbrig, als die Abhandlung von dem Wohlklange der in der poetiſchen Schreibart mehr, als in proſaiſchen Sachen beobachtet werden muß. Unter dieſem allgemeinen Ausdrucke begreife ich alles, was an Verſen ins Gehoͤr faͤllt, die Abwechſelung langer und kur- tzer Sylben, den Abſchnitt, die Schluß-Puncte in den Stro- phen, die Reime, und wo ſonſt noch etwas die Ohren kuͤtzeln, und dadurch das Gemuͤth eines Leſers oder Zuhoͤrers belu- ſtigen kan. Die Muſic allein nehme ich aus, als welches eine eigene Kunſt iſt, die auch ohne die Poeſie beſtehen kan: es waͤre denn, daß man auch die Harmonie eines wohl aus- geſprochenen Verßes, nach Art der Alten, einen Geſang nen- nen wollte. Zwar hat auch die ungebundne Schreibart ihren ge- wiſſen Wohlklang, davon Cicero in ſeinen Geſpraͤchen vom Redner, Quintilian, und nach ihnen faſt alle Lehrer der Be- redſamkeit ausfuͤhrlich zu handeln pflegen. Wenn man es genau unterſuchet, woher derſelbe entſteht, ſo findet man, daß es nichts anders, als die angenehme Abwechſelung ge- wiſſer lautenden und ſtummen Buchſtaben, imgleichen die Vermiſchung langer und kurtzer Sylben ſey, die hinter ein- ander ausgeſprochen einen lieblichen Klang verurſachen. Wie viel darauf in der Wohlredenheit ankomme, iſt be- kannt. Offtmahls werden die Zuhoͤrer einer ſo harmoni- ſchen Rede dadurch mehr als durch die beſten Gruͤnde ge- ruͤhret und eingenommen; zumahl wenn der Redner eine liebliche Stimme hat, und bey einer deutlichen Ausſprache aller Sylben und Buchſtaben die Thoͤne derſelben geſchickt, das iſt, den Sachen und dem Affecte gemaͤß zu veraͤndern weiß.

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/331>, abgerufen am 28.03.2024.