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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das dritte Capitel
Von Jdyllen, Eclogen oder
Schäfer-Gedichten.

MAn kan gewissermassen sagen, daß diese Gattung von
Gedichten die allerälteste sey. Denn ob ich wohl in
dem Hauptstücke von Oden, im Absehen auf dieselbe
eben das behauptet: so wiederspreche ich mir doch nicht; wenn
ich sage; daß die allerersten Lieder Schäfer-Lieder oder Hir-
ten-Gedichte gewesen. Die ersten Einwohner der Welt
nehrten sich bloß von der Viehzucht. Der Ackerbau, die
Jagt, der Fischfang und das Weinpflantzen sind viel später
erfunden und in Schwang gebracht worden. Die Kauf-
mannschafft und alle andre Künste sind noch viel jünger. Da
nun die Erfindung der Poesie mit den ersten Menschen
gleich alt ist; so sind die ersten Poeten oder Lieder-Dichter,
Schäfer oder Hirten gewesen. Ohne Zweifel haben sie ihre
Gesänge nach ihrem Character und ihrer Lebensart einge-
richtet: Folglich sind ihre Gedichte Schäfer-Gedichte ge-
wesen.

Jch will damit nicht behaupten, daß die ältesten Gedichte
so wir haben, Schäfer-Gedichte wären. Nein, was wir vom
Theocritus, Bion und Moschus in dieser Art haben, ist sehr
neu. Die allerersten Poesien sind nicht bis auf unsre Zeiten
gekommen: ja sie haben nicht können so lange erhalten wer-
den; weil sie niemahls aufgeschrieben worden. Was nur
im Gedächtnisse behalten und mündlich fortgepflantzet wird,
kan gar zu leicht verlohren gehen. Daß aber vor Theocriti
Zeiten wircklich Schäfer-Gedichte müssen gemacht worden
seyn, kan aus seinen eigenen Jdyllen erwiesen werden. Er
berufft sich immer auf die Arcadischen Hirten, als gute Poe-
ten, die vom Pan ihre Music gefasset hätten. Es müssen
doch also unter den damahligen Schäfern mancherley Lieder
im Schwange gewesen seyn, die zum Theil sehr alt gewesen

seyn


Das dritte Capitel
Von Jdyllen, Eclogen oder
Schaͤfer-Gedichten.

MAn kan gewiſſermaſſen ſagen, daß dieſe Gattung von
Gedichten die alleraͤlteſte ſey. Denn ob ich wohl in
dem Hauptſtuͤcke von Oden, im Abſehen auf dieſelbe
eben das behauptet: ſo wiederſpreche ich mir doch nicht; wenn
ich ſage; daß die allererſten Lieder Schaͤfer-Lieder oder Hir-
ten-Gedichte geweſen. Die erſten Einwohner der Welt
nehrten ſich bloß von der Viehzucht. Der Ackerbau, die
Jagt, der Fiſchfang und das Weinpflantzen ſind viel ſpaͤter
erfunden und in Schwang gebracht worden. Die Kauf-
mannſchafft und alle andre Kuͤnſte ſind noch viel juͤnger. Da
nun die Erfindung der Poeſie mit den erſten Menſchen
gleich alt iſt; ſo ſind die erſten Poeten oder Lieder-Dichter,
Schaͤfer oder Hirten geweſen. Ohne Zweifel haben ſie ihre
Geſaͤnge nach ihrem Character und ihrer Lebensart einge-
richtet: Folglich ſind ihre Gedichte Schaͤfer-Gedichte ge-
weſen.

Jch will damit nicht behaupten, daß die aͤlteſten Gedichte
ſo wir haben, Schaͤfer-Gedichte waͤren. Nein, was wir vom
Theocritus, Bion und Moſchus in dieſer Art haben, iſt ſehr
neu. Die allererſten Poeſien ſind nicht bis auf unſre Zeiten
gekommen: ja ſie haben nicht koͤnnen ſo lange erhalten wer-
den; weil ſie niemahls aufgeſchrieben worden. Was nur
im Gedaͤchtniſſe behalten und muͤndlich fortgepflantzet wird,
kan gar zu leicht verlohren gehen. Daß aber vor Theocriti
Zeiten wircklich Schaͤfer-Gedichte muͤſſen gemacht worden
ſeyn, kan aus ſeinen eigenen Jdyllen erwieſen werden. Er
berufft ſich immer auf die Arcadiſchen Hirten, als gute Poe-
ten, die vom Pan ihre Muſic gefaſſet haͤtten. Es muͤſſen
doch alſo unter den damahligen Schaͤfern mancherley Lieder
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[381/0409] Das dritte Capitel Von Jdyllen, Eclogen oder Schaͤfer-Gedichten. MAn kan gewiſſermaſſen ſagen, daß dieſe Gattung von Gedichten die alleraͤlteſte ſey. Denn ob ich wohl in dem Hauptſtuͤcke von Oden, im Abſehen auf dieſelbe eben das behauptet: ſo wiederſpreche ich mir doch nicht; wenn ich ſage; daß die allererſten Lieder Schaͤfer-Lieder oder Hir- ten-Gedichte geweſen. Die erſten Einwohner der Welt nehrten ſich bloß von der Viehzucht. Der Ackerbau, die Jagt, der Fiſchfang und das Weinpflantzen ſind viel ſpaͤter erfunden und in Schwang gebracht worden. Die Kauf- mannſchafft und alle andre Kuͤnſte ſind noch viel juͤnger. Da nun die Erfindung der Poeſie mit den erſten Menſchen gleich alt iſt; ſo ſind die erſten Poeten oder Lieder-Dichter, Schaͤfer oder Hirten geweſen. Ohne Zweifel haben ſie ihre Geſaͤnge nach ihrem Character und ihrer Lebensart einge- richtet: Folglich ſind ihre Gedichte Schaͤfer-Gedichte ge- weſen. Jch will damit nicht behaupten, daß die aͤlteſten Gedichte ſo wir haben, Schaͤfer-Gedichte waͤren. Nein, was wir vom Theocritus, Bion und Moſchus in dieſer Art haben, iſt ſehr neu. Die allererſten Poeſien ſind nicht bis auf unſre Zeiten gekommen: ja ſie haben nicht koͤnnen ſo lange erhalten wer- den; weil ſie niemahls aufgeſchrieben worden. Was nur im Gedaͤchtniſſe behalten und muͤndlich fortgepflantzet wird, kan gar zu leicht verlohren gehen. Daß aber vor Theocriti Zeiten wircklich Schaͤfer-Gedichte muͤſſen gemacht worden ſeyn, kan aus ſeinen eigenen Jdyllen erwieſen werden. Er berufft ſich immer auf die Arcadiſchen Hirten, als gute Poe- ten, die vom Pan ihre Muſic gefaſſet haͤtten. Es muͤſſen doch alſo unter den damahligen Schaͤfern mancherley Lieder im Schwange geweſen ſeyn, die zum Theil ſehr alt geweſen ſeyn

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/409>, abgerufen am 28.03.2024.