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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das IV. Capitel
der poetischen Wercke mit Nutzen einmischen. Jn Oden,
Elegien, Schäfergedichten und Satiren, ja auch in poeti-
schen Briefen haben die Alten und Neuen sich ihrer Dich-
tungs-Krafft mit gutem Fortgange bedienet. Deswegen
aber leugne ich nicht, daß nicht die erstern und unvollkomme-
nern beyden Gattungen der Nachahmung, nehmlich die
Beschreibungen und Ausdrückungen der Gemüths-Beschaf-
fenheiten, in diesen kleinern Gedichten gleichsam herrschen
sollten. Eben darum aber sind sie auch vor geringer zu hal-
ten als die großen poetischen Wercke, wo die Fabel zum
Grunde liegt. Wer jene geschickt verfertiget, heißt zwar
auch ein Dichter, in so weit er der Natur nachahmet; aber
ein Dichter von weit geringerer Fähigkeit, als einer der in
großen moralischen Fabeln, die Handlungen der Menschen
auf eine so vollkommene Art vorzustellen vermögend ist.
Wer ein gut Naturell und Lust zur Poesie hat, fängt vom
kleinen an; strebt aber mit einer löblichen Ehrliebe nach dem
vollkommensten. Wer diesen Gipfel nicht erreichen kan, der
bescheidet sich auch, daß er kein großer Poet ist, und begnügt
sich, wenn er unter den kleinen Dichtern Lob verdienet.
Unser Vaterland hat auch in der That noch keinen großen
Poeten hervorgebracht, weil wir in den großen Gattungen
der Gedichte noch kein gutes Original aufzuweisen haben.
Mit Ubersetzungen ist es nicht ausgerichtet. Wenn ich gleich
die Jlias und Odyssee, und die Eneis noch dazu, in die schön-
sten deutschen Verße übersetzte: So würde ich dadurch eben
so wenig ein Poet, als die Frau Dacier durch ihre unge-
bundne französische Ubersetzung eine Dichterin geworden.
Es muß was eigenes, es muß eine neue poetische Fabel seyn,
deren Erfindung und geschickte Ausführung nur
den Nahmen eines Dichters erwer-
ben soll.

Das

Das IV. Capitel
der poetiſchen Wercke mit Nutzen einmiſchen. Jn Oden,
Elegien, Schaͤfergedichten und Satiren, ja auch in poeti-
ſchen Briefen haben die Alten und Neuen ſich ihrer Dich-
tungs-Krafft mit gutem Fortgange bedienet. Deswegen
aber leugne ich nicht, daß nicht die erſtern und unvollkomme-
nern beyden Gattungen der Nachahmung, nehmlich die
Beſchreibungen und Ausdruͤckungen der Gemuͤths-Beſchaf-
fenheiten, in dieſen kleinern Gedichten gleichſam herrſchen
ſollten. Eben darum aber ſind ſie auch vor geringer zu hal-
ten als die großen poetiſchen Wercke, wo die Fabel zum
Grunde liegt. Wer jene geſchickt verfertiget, heißt zwar
auch ein Dichter, in ſo weit er der Natur nachahmet; aber
ein Dichter von weit geringerer Faͤhigkeit, als einer der in
großen moraliſchen Fabeln, die Handlungen der Menſchen
auf eine ſo vollkommene Art vorzuſtellen vermoͤgend iſt.
Wer ein gut Naturell und Luſt zur Poeſie hat, faͤngt vom
kleinen an; ſtrebt aber mit einer loͤblichen Ehrliebe nach dem
vollkommenſten. Wer dieſen Gipfel nicht erreichen kan, der
beſcheidet ſich auch, daß er kein großer Poet iſt, und begnuͤgt
ſich, wenn er unter den kleinen Dichtern Lob verdienet.
Unſer Vaterland hat auch in der That noch keinen großen
Poeten hervorgebracht, weil wir in den großen Gattungen
der Gedichte noch kein gutes Original aufzuweiſen haben.
Mit Uberſetzungen iſt es nicht ausgerichtet. Wenn ich gleich
die Jlias und Odyſſee, und die Eneis noch dazu, in die ſchoͤn-
ſten deutſchen Verße uͤberſetzte: So wuͤrde ich dadurch eben
ſo wenig ein Poet, als die Frau Dacier durch ihre unge-
bundne franzoͤſiſche Uberſetzung eine Dichterin geworden.
Es muß was eigenes, es muß eine neue poetiſche Fabel ſeyn,
deren Erfindung und geſchickte Ausfuͤhrung nur
den Nahmen eines Dichters erwer-
ben ſoll.

Das
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[140/0168] Das IV. Capitel der poetiſchen Wercke mit Nutzen einmiſchen. Jn Oden, Elegien, Schaͤfergedichten und Satiren, ja auch in poeti- ſchen Briefen haben die Alten und Neuen ſich ihrer Dich- tungs-Krafft mit gutem Fortgange bedienet. Deswegen aber leugne ich nicht, daß nicht die erſtern und unvollkomme- nern beyden Gattungen der Nachahmung, nehmlich die Beſchreibungen und Ausdruͤckungen der Gemuͤths-Beſchaf- fenheiten, in dieſen kleinern Gedichten gleichſam herrſchen ſollten. Eben darum aber ſind ſie auch vor geringer zu hal- ten als die großen poetiſchen Wercke, wo die Fabel zum Grunde liegt. Wer jene geſchickt verfertiget, heißt zwar auch ein Dichter, in ſo weit er der Natur nachahmet; aber ein Dichter von weit geringerer Faͤhigkeit, als einer der in großen moraliſchen Fabeln, die Handlungen der Menſchen auf eine ſo vollkommene Art vorzuſtellen vermoͤgend iſt. Wer ein gut Naturell und Luſt zur Poeſie hat, faͤngt vom kleinen an; ſtrebt aber mit einer loͤblichen Ehrliebe nach dem vollkommenſten. Wer dieſen Gipfel nicht erreichen kan, der beſcheidet ſich auch, daß er kein großer Poet iſt, und begnuͤgt ſich, wenn er unter den kleinen Dichtern Lob verdienet. Unſer Vaterland hat auch in der That noch keinen großen Poeten hervorgebracht, weil wir in den großen Gattungen der Gedichte noch kein gutes Original aufzuweiſen haben. Mit Uberſetzungen iſt es nicht ausgerichtet. Wenn ich gleich die Jlias und Odyſſee, und die Eneis noch dazu, in die ſchoͤn- ſten deutſchen Verße uͤberſetzte: So wuͤrde ich dadurch eben ſo wenig ein Poet, als die Frau Dacier durch ihre unge- bundne franzoͤſiſche Uberſetzung eine Dichterin geworden. Es muß was eigenes, es muß eine neue poetiſche Fabel ſeyn, deren Erfindung und geſchickte Ausfuͤhrung nur den Nahmen eines Dichters erwer- ben ſoll. Das

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/168>, abgerufen am 25.04.2024.