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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
ist was künstliches, was gleißendes, was blendendes: nur
überhaupt taugt das gantze Gedichte nichts.

Das ist nun nicht die Schreibart, so sich vor ein Hel-
den-Gedichte schickt. Der Poet erzehlt eine Fabel, seine Le-
ser zu lehren und zu bessern. Er muß sich also theils in ihren
Verstand, theils in ihren Willen schicken. Jenen zu unter-
richten, muß er sich einer ungezwungenen, aber doch reinen,
deutlichen und zierlichen Art zu erzehlen bedienen; wie wir in
dem Capitel von der Schreibart gewiesen haben. Den
Willen aber zu gewinnen und die Affecten zu rühren, muß er
sich der pathetischen Schreibart gebrauchen, wenn er nehm-
lich Leute, die im Affecte sind, redend einführet. Der Poet
muß sich selber vergessen, und nur auf seine Fabel, auf seine
Personen und Handlungen, auf ihre Wahrscheinlichkeit und
anmuthige Nutzbarkeit sehen. Er muß es sich nicht anders
mercken lassen, daß er viel Witz und Scharfsinnigkeit besi-
tzet; als dadurch, daß er seine Leser in der Aufmercksamkeit
erhält, sie von einer Begebenheit auf die andre, von einem
Wunder aufs andre, von einer Gemüthsbewegung auf die
andre leitet; sie bald nach Troja, bald nach Africa, bald in
den Himmel, bald in die Hölle führet. Wer das kan, der
wird vor das Lob der Scharfsinnigkeit nicht sorgen dörfen.
Wer aber nur auf die Spitzfündigkeit in Worten und Re-
densarten: auf künstliche Einfälle und andres Flittergold
sieht, der weichet von der Einfalt der Natur ab, darinn ihm
Homer und Virgil in ihrer Schreibart vorgegangen sind.
Tasso selbst, der doch unter seinen Landsleuten noch am ver-
nünftigsten schreibt, ist von dem Voltaire wegen seiner Jta-
lienischen Künsteleyen in der Schreibart mit Grunde geta-
delt worden. Und was wird man also von den übrigen sa-
gen, die lauter Ampullas und sesquipedalia Verba zusammen-
geraffet und ihre Gedichte damit ausstaffiret haben? Wer
ausführlichere Regeln von dem allen verlanget, muß
den offt angezogenen Tractat von le Bossu
nachschlagen.

Das
N n 2

Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
iſt was kuͤnſtliches, was gleißendes, was blendendes: nur
uͤberhaupt taugt das gantze Gedichte nichts.

Das iſt nun nicht die Schreibart, ſo ſich vor ein Hel-
den-Gedichte ſchickt. Der Poet erzehlt eine Fabel, ſeine Le-
ſer zu lehren und zu beſſern. Er muß ſich alſo theils in ihren
Verſtand, theils in ihren Willen ſchicken. Jenen zu unter-
richten, muß er ſich einer ungezwungenen, aber doch reinen,
deutlichen und zierlichen Art zu erzehlen bedienen; wie wir in
dem Capitel von der Schreibart gewieſen haben. Den
Willen aber zu gewinnen und die Affecten zu ruͤhren, muß er
ſich der pathetiſchen Schreibart gebrauchen, wenn er nehm-
lich Leute, die im Affecte ſind, redend einfuͤhret. Der Poet
muß ſich ſelber vergeſſen, und nur auf ſeine Fabel, auf ſeine
Perſonen und Handlungen, auf ihre Wahrſcheinlichkeit und
anmuthige Nutzbarkeit ſehen. Er muß es ſich nicht anders
mercken laſſen, daß er viel Witz und Scharfſinnigkeit beſi-
tzet; als dadurch, daß er ſeine Leſer in der Aufmerckſamkeit
erhaͤlt, ſie von einer Begebenheit auf die andre, von einem
Wunder aufs andre, von einer Gemuͤthsbewegung auf die
andre leitet; ſie bald nach Troja, bald nach Africa, bald in
den Himmel, bald in die Hoͤlle fuͤhret. Wer das kan, der
wird vor das Lob der Scharfſinnigkeit nicht ſorgen doͤrfen.
Wer aber nur auf die Spitzfuͤndigkeit in Worten und Re-
densarten: auf kuͤnſtliche Einfaͤlle und andres Flittergold
ſieht, der weichet von der Einfalt der Natur ab, darinn ihm
Homer und Virgil in ihrer Schreibart vorgegangen ſind.
Taſſo ſelbſt, der doch unter ſeinen Landsleuten noch am ver-
nuͤnftigſten ſchreibt, iſt von dem Voltaire wegen ſeiner Jta-
lieniſchen Kuͤnſteleyen in der Schreibart mit Grunde geta-
delt worden. Und was wird man alſo von den uͤbrigen ſa-
gen, die lauter Ampullas und ſesquipedalia Verba zuſammen-
geraffet und ihre Gedichte damit ausſtaffiret haben? Wer
ausfuͤhrlichere Regeln von dem allen verlanget, muß
den offt angezogenen Tractat von le Boſſu
nachſchlagen.

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N n 2
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[563/0591] Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte. iſt was kuͤnſtliches, was gleißendes, was blendendes: nur uͤberhaupt taugt das gantze Gedichte nichts. Das iſt nun nicht die Schreibart, ſo ſich vor ein Hel- den-Gedichte ſchickt. Der Poet erzehlt eine Fabel, ſeine Le- ſer zu lehren und zu beſſern. Er muß ſich alſo theils in ihren Verſtand, theils in ihren Willen ſchicken. Jenen zu unter- richten, muß er ſich einer ungezwungenen, aber doch reinen, deutlichen und zierlichen Art zu erzehlen bedienen; wie wir in dem Capitel von der Schreibart gewieſen haben. Den Willen aber zu gewinnen und die Affecten zu ruͤhren, muß er ſich der pathetiſchen Schreibart gebrauchen, wenn er nehm- lich Leute, die im Affecte ſind, redend einfuͤhret. Der Poet muß ſich ſelber vergeſſen, und nur auf ſeine Fabel, auf ſeine Perſonen und Handlungen, auf ihre Wahrſcheinlichkeit und anmuthige Nutzbarkeit ſehen. Er muß es ſich nicht anders mercken laſſen, daß er viel Witz und Scharfſinnigkeit beſi- tzet; als dadurch, daß er ſeine Leſer in der Aufmerckſamkeit erhaͤlt, ſie von einer Begebenheit auf die andre, von einem Wunder aufs andre, von einer Gemuͤthsbewegung auf die andre leitet; ſie bald nach Troja, bald nach Africa, bald in den Himmel, bald in die Hoͤlle fuͤhret. Wer das kan, der wird vor das Lob der Scharfſinnigkeit nicht ſorgen doͤrfen. Wer aber nur auf die Spitzfuͤndigkeit in Worten und Re- densarten: auf kuͤnſtliche Einfaͤlle und andres Flittergold ſieht, der weichet von der Einfalt der Natur ab, darinn ihm Homer und Virgil in ihrer Schreibart vorgegangen ſind. Taſſo ſelbſt, der doch unter ſeinen Landsleuten noch am ver- nuͤnftigſten ſchreibt, iſt von dem Voltaire wegen ſeiner Jta- lieniſchen Kuͤnſteleyen in der Schreibart mit Grunde geta- delt worden. Und was wird man alſo von den uͤbrigen ſa- gen, die lauter Ampullas und ſesquipedalia Verba zuſammen- geraffet und ihre Gedichte damit ausſtaffiret haben? Wer ausfuͤhrlichere Regeln von dem allen verlanget, muß den offt angezogenen Tractat von le Boſſu nachſchlagen. Das N n 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 563. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/591>, abgerufen am 29.03.2024.